Skip to main content

Was ist an Veränderungen eigentlich so problematisch? Was haben sie an sich, dass wir sie überhaupt thematisieren, uns gerne über sie beschweren und dann auch noch mit ihnen umgehen können wollen? Als ich plante, diesen Artikel hier zu schreiben, da waren ganz klar die Veränderungen durch Corona der Auslöser meiner Gedanken. Ich wollte darüber schreiben, was es „mit uns macht“ und was wir nun tun können, wie wir damit umgehen können. Inzwischen habe ich echt die Nase voll von Corona. Gleichzeitig finde ich nach wie vor, dass uns diese Zeit geradezu dazu drängt, manche Themen einmal genauer zu beleuchten.

Ich gebe dir hier vier Ideen mit, wie du trainieren kannst, souveräner mit Veränderungen umzugehen. Um meine Ideen zu veranschaulichen, möchte ich ein Bild nutzen:

Stellen wir uns vor, wir segeln mit unserer Familie auf dem Meer. Unser Boot ist gut ausgestattet und technisch intakt. Wir haben uns auf den vorherrschenden Wind eingestellt und die passenden Segel gesetzt. Wir haben ein Tagesziel vereinbart und unseren Kurs berechnet. Die Aufgaben sind klar verteilt: einer sitzt am Ruder, einer navigiert und die anderen setzen die Segel und verrichten andere Jobs, die anfallen. Alles ist geklärt. Es läuft.
Plötzlich scheint sich das Wetter zu ändern. Wir sind alarmiert und denken: Oha, da zieht ein Sturm auf, jetzt wird’s ungemütlich!

Idee #1: In der Schockstarre: Notfallstrategie „Ankerwurf“

In den Fällen, wo eine Veränderung über mich hereinbricht, mich meine Gefühle übermannen, ich überwältigt und quasi handlungsunfähig bin, hilft mir die Selbstempathie. Sie ist für mich eine erste Notfallstrategie, die mich davon abhält, in blinden Aktionismus zu verfallen oder die Flucht zu ergreifen. Ich nenne sie hier den „Ankerwurf“. Wie genau das mit der Selbstempathie „funktioniert“ haben wir in einer eigenen Serie näher beschrieben.

Was bringt mir der Ankerwurf?

Er hält mein Boot an Ort und Stelle und ermöglicht es mir, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Er verschafft mir etwas Zeit und Luft zum Durchatmen. Im wahrsten Sinne des Wortes hilft mir hier der Sauerstoff, den mein Gehirn braucht, um umfänglich zu arbeiten. Denn eine Veränderungssituation wird von unserem Gehirn gern als unmittelbare Gefahr eingestuft; unsere Atmung wird daraufhin schnell und flach und wir fokussieren; dabei wäre hier für besonnenes Handeln eine Weitung des Blickes und eine gute Sauerstoffversorgung hilfreicher.

Idee #1: Anker werfen, innehalten

Was ist problematisch am herkömmlichen Umgang mit Stress?

Wenn wir fokussieren, dann haben wir nur noch die Kapazität, einen kleinen Ausschnitt des Gesamtbildes zu sehen. Wir sind quasi darauf programmiert, uns aus einem Gesamtbild vor allem die vertrauten Ausschnitte herauszufiltern, weil wir damit schneller arbeiten können. Gerade in Veränderungssituationen ist es jedoch nicht immer hilfreich, auf Vertrautes zurückzugreifen. Das Vertraute bricht ja möglicherweise gerade weg und ist nicht verlässlich stabil! Wir brauchen mehr Informationen über das was neu ist.

Durch Training können wir uns einen neuen Reflex aneignen

Nun ist auch das Werfen eines Ankers bereits eine Handlung, die eine gewisse Handlungsfähigkeit voraussetzt. Idealerweise steht uns diese Notfallstrategie als unbewusste Reaktion auf Stress so unmittelbar zur Verfügung, dass sie quasi automatisiert abläuft. Das kann gelingen, indem wir sie trainieren. Das Stammhirn hat zwar seine Standardmechanismen (Flucht, Angriff, Erstarren); das Spektrum der Reaktionsmöglichkeiten kann aber durch einen gut antrainierten neuen Reflex ergänzt werden. Die Handlung darf nur nicht allzu komplex sein und muss auf alle Alarmsituationen gleichermaßen passen (damit wir nicht erst noch darüber nachdenken müssen, welche Option jetzt wohl die beste ist).

Idee #1: Trainiere den Ankerwurf: mache die Selbstempathie zu einem automatischen Reflex in Stresssituationen und übe die schnelle Selbsteinfühlung.

Idee #2: Begib dich regelmäßig auf Reisen jenseits der Komfortzone

Wir Menschen sind dazu veranlagt, eine Situation schnell zu bewerten, zu kategorisieren, einzuordnen und dann eine passende Reaktion abzurufen. Angenommen, wir haben unseren Blick nicht geweitet, sondern sind weitgehend in unserer Stammhirnreaktion, dann suchen wir jetzt nach Strategien, die wahlweise zur Kategorie „Angriff“ oder „Flucht“ gehören:

Holen wir die Segel ein, schalten wir den Hilfsmotor an?
Hissen wir zusätzliche oder andere Segel?
Berechnen wir unseren Kurs neu?
Verteilen wir die Aufgaben neu?
Können wir weitere Segler an Bord holen, oder das Boot wechseln?
Unterbrechen wir den Segeltörn, um einen sicheren Hafen anzufahren?
Beenden wir den Segeltörn?

Unsere Vorerfahrungen beeinflussen unsere Reaktionen

Wir suchen in unserem Gedächtnis Erinnerungen an vergleichbare Situationen und sondieren blitzschnell, welche uns bekannte Strategie wohl die Vielversprechendste ist. Haben wir bereits eine Menge Erfahrung mit solchen Situationen, stehen uns schnell Handlungsoptionen zur Verfügung und wir handeln entsprechend schnell. Je unbekannter die Veränderung, desto weniger Erfahrungswerte haben wir. Manche Menschen sind dann wie gelähmt (Stammhirnreaktion „Erstarren“), andere – so wie ich – werden hektisch und schießen ins Blaue. Probieren aus. Machen ein schnelles Brainstorming und experimentieren mit verschiedenen Maßnahmen.

Das Verlassen der Komfortzone löst Gefühle aus, die ich als unangenehm erlebe

Ich frage mich an dieser Stelle: warum treibt es mich (und all die anderen, denen es genauso geht) so sehr zum Handeln? Warum suche ich sofort nach Lösungen, warum will ich nach dem Erkennen der Veränderung sofort etwas tun? Ich vermute, es hat was mit der Komfortzone zu tun. Hier meine Theorie:

Das Verlassen der Komfortzone (schon allein die Befürchtung, aus der Komfortzone geholt zu werden), löst Unsicherheit, Ängste und Druck bei mir aus. Ich mag diese Gefühle nicht, denn ich erlebe sie als unangenehm, und wie die meisten Menschen strebe ich danach, mich gut zu fühlen, also suche ich nach Möglichkeiten, schnell wieder angenehme Gefühle zu spüren. Angenehme Gefühle erlebe ich, wenn sich Bedürfnisse erfüllen. Spüre ich angesichts einer Veränderung Unsicherheit (bis hin zu Hilflosigkeit und Ohnmacht), Angst und Druck, brauche ich persönlich oft Orientierung, Klarheit, Sicherheit.

Dem Sturm hilflos ausgesetzt sein - das wollen und können die wenigsten Menschen. Es löst Gefühle aus, die wir oft als unangenehm empfinden.
Idee #2: Die Stürme des Lebens aushalten lernen

Bevor ich gar nichts tue, tue ich irgendwas

In Veränderungssituationen stehen mir aber genau diese Dinge oft gerade nicht zur Verfügung! Was mir dann schon hilft ist die Illusion, die Kontrolle zu haben, die Geschicke lenken zu können, wirksam zu sein. Meine Lieblingsstrategie, um mir diese Bedürfnisse zu erfüllen, ist meistens, das Ruder zu übernehmen und zu handeln. Einen Plan zu entwickeln und diesen in die Tat umzusetzen. Ich möchte Wetter und Gezeiten nicht tatenlos zusehen und ihnen ausgeliefert sein, will kein Spielball des Schicksals sein. Also tue ich im Zweifel irgendwas, und wenn das nicht sofort Wirkung zeigt, dann ändere ich meine Strategie und tue etwas anderes. (Was übrigens nicht unbedingt zu Stabilität und Beständigkeit beiträgt, mich also nicht zurück in meine Komfortzone bringt.).

Unangenehme Gefühle aushalten lernen

Ich glaube, es ist eine der wertvollsten Schlüsselkompetenzen überhaupt, unangenehme Gefühle aushalten zu können. Kann man das lernen? Ich glaube schon! Meine erste spontane Idee dazu ist: in ruhigen Zeiten ganz bewusst immer wieder die Komfortzone verlassen und alle dabei aufkommenden unangenehmen Gefühle kennenlernen und das Aushalten üben. Sozusagen in geschützter Umgebung den (vorübergehenden) Kontrollverlust trainieren.

Idee #2: Trainiere das Aushalten unangenehmer Gefühle, zum Beispiel, indem du regelmäßig deine Komfortzone verlässt

Idee #3: Beobachten statt zu bewerten

Wenn wir den Anker geworfen haben, und uns nicht von unangenehmen Gefühlen zu schnellem Handeln hinreißen lassen, dann haben wir etwas Zeit gewonnen, um uns auf das Hier und Jetzt zu besinnen und die Situation genauer zu betrachten. An dieser Stelle ist es aus meiner Sicht sinnvoll, nicht zu bewerten, sondern „nur“ wahrzunehmen, und dabei möglichst umfassend zu erfassen, was los ist. Ich beobachte also zunächst einmal möglichst nüchtern und frei von Interpretationen, Ängsten und Gedanken, was genau gerade geschieht.

Ich beobachte meine Umgebung:

Der Wind nimmt kontinuierlich zu, innerhalb von 5 Minuten hat er 3 Windstärken zugelegt. Er wechselt die Richtung und ist mit Böen durchsetzt. Unberechenbarer Verlauf. Die Wellen sind nun höher als zuvor, das Segel flattert laut, unser Boot läuft nicht mehr stabil sondern tanzt auf dem Wasser. Um Kurs zu halten sind laufend Korrekturen erforderlich. Die Mannschaft hat alle Hände voll zu tun.

Ich beobachte meine Gefühle: Hierbei ist entscheidend, wie ich selber konstituiert bin: habe ich bereits Erfahrung mit solchen Situationen, habe ich (Selbst)Vertrauen. Heiße ich Spannung und Abenteuer in meinem Leben willkommen, bin ich jetzt vielleicht freudig erregt, begeistert und voller Energie. Bin ich hingegen unerfahren und generell eher ein Liebhaber von Beständigkeit, Ruhe und Kontinuität, dann fühle ich mich jetzt vielleicht besorgt bis angstvoll, unsicher und unter Druck. Wie auch immer es mir geht: dieses zu erkennen, ohne es zu bewerten oder gar zu verurteilen, ist immens wertvoll. Denn meine Gefühle sagen mir, was ich jetzt brauche, und dann kann ich schauen, woher ich das, was ich brauche, bekommen kann.

Ich beobachte die Anderen: Wir sind nicht allein im Boot: unsere Familie fährt mit. Habe ich für mich geklärt, wie ich selbst die Veränderung einschätze, bin ich, insbesondere als Elternteil, gefordert, auch bei meinen Kindern und meinem Partner nach dem Rechten zu schauen.

Idee #3: Lerne, deinen Blick zu weiten

Mein Job: Auf alle Bedürfnisse schauen

Man sagt, die Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. In mein Segelbild übertragen: was habe ich davon, wenn ich selbst das Abenteuer liebe und experimentierfreudig bin, bereit, Risiken einzugehen, aber ein Crewmitglied nicht wetterfest ist und über der Reling hängt, oder vor lauter Panik ohnmächtig wird? Mein Job ist es zu schauen, wie die Gemüts- und Bedürfnislage bei allen Beteiligten ist, bevor ich Entscheidungen treffe und auf die Veränderung aktiv reagiere. Ich sagte bereits: wir sind evolutionsbedingt dazu veranlagt, Situationen schnell zu erfassen, zu bewerten und zu reagieren. Es ist quasi gegen unsere Natur, zunächst einmal bewertungsfrei zu beobachten.

Idee #3: Lerne und trainiere das bewertungsfreie Beobachten und mache es dir zur Gewohnheit, den Blick zu weiten.

Idee #4: Lichte den Anker und dreh‘ die Frage um

Wie schon beschrieben, beschäftigen sich die meisten Menschen beim Eintreten einer Veränderung mit der Frage, was sie nun tun sollen. Das trifft auch auf mich selbst zu. Ich bin grundsätzlich handlungsorientiert, will aktiv werden, ins Tun kommen. Ich sondiere schnell alle Handlungsoptionen und Lösungsansätze. Ich stelle ganz überrascht fest, dass ich mich nur sehr selten frage, ob ich überhaupt etwas tun soll.

Mache ich jetzt was?

Wenn ich sie umdrehe, dann wird aus „Was mache ich jetzt?“ die Frage „Mache ich jetzt was?“ Ich versuche, den Unterschied – und die damit verbundene Herausforderung – zu veranschaulichen:
Wir haben beobachtet, wie sich im Vergleich zu vorher Wind und Wellen verändert haben, haben unsere Gefühle wahrgenommen und die Mannschaft im Blick. Wir haben das Hier und Jetzt einigermaßen erfasst. Eine mögliche Option wäre, jetzt erst einmal selber gar nichts zu tun – aber nicht im Sinne von „Erstarren“ (da hätten wir ja eine eingeengte Wahrnehmung und wären nur bedingt aufnahmefähig), sondern im Sinne von aufmerksam abwartend.

In unserem Bild wäre es:

Wir segeln erstmal genauso weiter wie bisher. Wir verändern selber nichts im Vergleich zu vorher und schauen genau hin, was als nächstes passiert und wie es weitergeht. Wir sind achtsam, vielleicht in höchster Alarmbereitschaft, aber ruhig und konzentriert. Wir beobachten das Wasser, die Wellen, den Wind, die Crew – und die Richtung und Geschwindigkeit unserer Fortbewegung. Allerdings müssen wir dafür eines tun: wir müssen den vorher ausgeworfenen Anker lichten…

Meiner Erfahrung nach ist dies – nach dem Aushalten unangenehmer Gefühle – einer der schwersten Schritte im Umgang mit Veränderungen. Warum? Ich sehe zwei mögliche Gründe dafür, warum wir diese Option nur selten wählen: Wir sehen keinen Sinn darin. Oder: Wir haben Angst.

Idee #4: Dreh die Frage um, lichte den Anker und beobachte aufmerksam, wie es ohne Veränderungen Deinerseits weitergeht.

Diese beiden Gründe – die Sinnfrage und die Angst – sind so spannend, dass ich ihnen einen eigenen Blogartikel gewidmet habe. Darin erfährst du auch, was das Ganze mit unserem wertschätzenden und bedürfnisorientierten Familienleben zu tun hat.

Hier noch einmal alle meine 4 Ideen für einen souveränen Umgang mit Veränderungen auf einen Blick:

#1: Trainiere den Ankerwurf: mache die Selbstempathie zu einem automatischen Reflex in Stresssituationen und übe die schnelle Selbsteinfühlung.

#2: Trainiere das Aushalten unangenehmer Gefühle, zum Beispiel, indem du regelmäßig deine Komfortzone verlässt

#3: Lerne und trainiere das bewertungsfreie Beobachten und mache es dir zur Gewohnheit, den Blick zu weiten.

#4: Dreh die Frage um, lichte den Anker und beobachte aufmerksam, wie es ohne Veränderungen Deinerseits weitergeht.

Und jetzt du:

Welche der Ideen willst du mal ausprobieren? Welche Erfahrungen hast du in Hinblick auf Veränderungen von außen schon gemacht? Wir freuen uns sehr über Kommentar! Und wenn dir der Text weitergeholfen hat, dann teile ihn gerne.

Teile diesen Beitrag!

Leave a Reply