Skip to main content

Wie lange ist das jetzt alles her? Damals, als die Welt noch in geregelten Bahnen lief, wir unsere erprobte Struktur hatten – die Kinder ihre klaren Abläufe und ich meine vorher fest eingeplanten Freiräume? Sind es Wochen? Monate? Jahre? Ich verliere mehr und mehr mein Zeitgefühl. Einen Termin nach dem anderen habe ich im Kalender durchgestrichen. Der März ist abgesagt. Der April auch. Der Mai? Abwarten. Osterurlaub? Gestrichen. Nachmittagsaktivitäten der Kinder? Fallen aus. Arbeitstermine? Nach hinten verschoben.

Haben wir in nächster Zeit eigentlich noch Termine?

Etwas mehr als eine Woche ist das jetzt her, seit sich alles so grundlegend und auf unbestimmte Zeit verändert hat. Und endlich finde ich etwas Ruhe, um mal zurückzublicken auf 11 Tage Wechselbad der Gefühle.

Tag 1, Freitag:

Mit zwei großen Tüten betrete ich den Kindergarten. Heute nehmen wir alles mit, räumen Garderobe und Fächer der beiden Kleinen leer. Die gucken mich verständnislos an. Ohnehin ist heute alles so anders. Fünf Erzieherinnen sitzen da zusammen in der Gruppe, kaum noch Kinder sind da. Ratlosigkeit, Schwere, Schulterzucken. Ich lächle in die Runde, versuche Zuversicht auszustrahlen als ich sage: „Wir sehen uns in fünf Wochen. Bleiben Sie alle gesund und passen gut auf sich auf.“ Eine Erzieherin kämpft mit den Tränen. „Sowas habe ich in all der Zeit noch nicht erlebt“, sagt sie.
Unser Schulkind hat zuvor Armin Laschets Rede mitverfolgt. Sie versteht grob um was es geht und reagiert daher sehr zurückhaltend auf die Aussicht auf fünf Wochen „Corona-Ferien“. Als ihr klar wird, dass nun auch ihre beiden kleinen Geschwister rund um die Uhr zu Hause sein werden, platzt es aus ihr heraus.

Auf keinen Fall halte ich das hier mit Euch allen aus!!!

Tag 4, Montag:

Wir starten hoch motiviert in den neuen „Alltag“. Am Wochenende haben wir einen Plan gemacht. Morgens erst ein Spaziergang, dann Schulaufgaben erledigen von 9 bis 11 Uhr. In der Zeit sollen die beiden Kindergartenkinder in ihren Zimmern oder draußen spielen, danach dann gemeinsam Kochen und Essen.
Für nachmittags haben wir uns mehrere Projekte überlegt. Bau eines Nistkastens für unsere vielen Meisen im Garten, einen Sand-Matsch-Tisch bauen, Gemüse anpflanzen und hegen und pflegen… Bei schlechtem Wetter vielleicht mal einen Stop-Motion-Film drehen und für Ostern basteln oder gemeinsam musizieren. Beim Spaziergang ist die Laune super. Die Große, die Freitag noch so schwarz gesehen hat, sagt freudestrahlend: „Ich glaube, ich finde die Corona-Ferien immer besser.“

Raus, wann immer es geht – nur so geht es irgendwie…

Auch der erste Nachmittag läuft recht gut. Wir spielen viel miteinander. Im Garten startet das erste Projekt: die Nistkästen. Mit der Großen fahre ich schnell nochmal in den Schuhladen. Man munkelt, dass ab morgen alle Geschäfte schließen, die nicht für die unmittelbare Versorgung notwendig sind. Die Verkäuferin hält Abstand, berät aus weiter Ferne. Wir sind die Einzigen im Geschäft. Alles fühlt sich unglaublich surreal an.
Als wir wieder zu Hause sind, wird im Radio der Lockdown verkündet. Irgendwie halte ich mich über Wasser, bis die Kinder im Bett sind. Dann ist da nur noch Erschöpfung, Hilflosigkeit.

Tag 5, Dienstag:

Ich habe ziemlich schnell verstanden: Wenn ich in diesen turbulenten Zeiten ein wenig Ruhe haben möchte, dann geht das nur, wenn ich vor allen anderen aufstehe. Also sitze ich eine Stunde vor dem vereinbarten Frühstücksbeginn auf meinem Meditationskissen. Meine Meditations-App verabschiedet mich mit „Was auch immer der Tag für Dich bereithält, Du kriegst das hin.“ Das trifft den Nagel auf den Kopf. Denn planbar ist so ziemlich gar nichts, da sich die äußeren Bedingungen jeden Tag ändern. Apropos Plan – übrig geblieben sind nur drei annähernd feste Komponenten: Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Bei allem anderen improvisieren wir. Wird sich schon noch einspielen, mache ich mir selbst Mut.

Beim Scrabble-Spielen greifen wir die aktuelle Stimmung auf

Tag 6, Mittwoch:

Die Bilanz des Tages: ein kaputtes Tablet, eine demolierte Tür, und Kind 3 hat eine Murmel verschluckt. Dringend gesucht wird neben der Motivation auch die Gewaltfreie Kommunikation. Wo hat sie sich versteckt? Wie ging die nochmal gleich? Empathie, kann man die essen? Wir maulen, meckern, schimpfen und schreien alle Fünf. Ich bin frustriert und erschöpft.
Die Zahl der Corona-Infizierten klettert immer weiter. Banale Tätigkeiten wie der Einkauf für unseren Fünf-Personen-Haushalt erfordern volle Konzentration. Abstand halten. Nicht ins Gesicht fassen. Essenspläne umwerfen und improvisieren, schauen was zu kriegen ist. Natürlich werden wir hier nicht verhungern. Doch wann standen wir schon mal vor so leeren Regalen? Einen kühlen Kopf zu bewahren ist da nicht immer leicht. Sich die Panik vom Leibe zu halten.
Am Abend appelliert Angela Merkel an die Kooperation aller. Aus Anstand Abstand halten. Die Lage ist ernst. Nehmen Sie sie auch ernst. – Zwischen den Zeilen höre ich die Androhung einer Ausgangssperre. Will ich die? Einerseits ja, denn dann würde Klarkeit herrschen. Andererseits macht mir der Gedanke Angst. Nicht mehr raus können mit drei lebhaften Kindern? Unvorstellbar.

Tag 7, Donnerstag:

Auftanken, Abschalten – Zeit beim Pferd

Ein kleines Stückchen Normalität. Ich bin beim Pferd und schaffe es tatsächlich, fast zwei Stunden lang mal nicht an Corona und alles Drumherum zu denken. Auftanken. Kraft schöpfen. Die Ruhe genießen. Während das Pferd grast, zwitschern die Vögel, die Sonne kitzelt meine Nase. Ach, das wird schon alles. Zuversicht macht sich breit.

Leichtigkeit, Freude und Zuversicht bahnen sich ihren Weg

In unser Wohnzimmer ist unterdessen der Vereinssport eingezogen. Kind 2 tanzt zu den Videos, die ihre Ballettlehrerin für die Kinder zum Üben aufgenommen hat, der Zwillingsbruder macht mit. In mir regen sich Leichtigkeit und Freude über die vielen kreativen Ideen, mit der Situation umzugehen.
Nach dem Mittagessen starten wir mit allen Kindern auf eine Fahrradtour, nur einmal um die Felder, möglichst auf einsamen Routen. Danach spielen die Kinder am neuen Sandtisch und mein Mann und ich genießen bei einer Tasse Kaffee die Sonne auf der Terrasse. Fühlt sich ein bisschen wie Urlaub an.

Tag 8, Freitag:

Wieder überschlagen sich die Ereignisse: Unsere Kleinstadt beschließt ein Kontaktverbot – wir dürfen nur noch alleine raus. Ausnahmen sind Familien oder Wohngemeinschaften. Für den Weg in den Stall bekomme ich vorsorglich schon mal einen „Passierschein“, sollte Sonntag die Ausgangssperre beschlossen werden. Wie das klingt! Ich kenne das sonst nur aus historischen Dokumenten. Über die Sozialen Medien und bei Freunden und Bekannten mache ich mobil: Bleibt zu Hause! Mein Eindruck: Immer noch nehmen es viele auf die leichte Schulter. Gleichzeitig spüre ich Verunsicherung. Ist das alles so richtig? Es geht hier schließlich um einschneidende Eingriffe in unsere Grundrechte.

Tag 9 und 10, Wochenende:

Hoffnung und Solidarität

Ausschlafen, keine Lernzeit, die Struktur werfen wir über Bord… Mit den Großeltern telefonieren wir über FaceTime. Sie verstehen alle, dass wir momentan nicht zu Besuch kommen, schotten sich selbst auch weitestgehend ab. Die Kinder sind aufgekratzt, rufen laut durcheinander. Bei Opa gibt es gleich Pfannkuchen, Kind 3 will unbedingt warten, bis die fertig sind und sehen wie Opa sie isst. Die riesige Flut an lautstarken Emotionen bekommen wir zum Glück eingedämmt als Opa verspricht, dass er gleich ein Foto schickt. Dafür schickt Kind 3 ihm eines von sich und dem vor ein paar Tagen selbst gezogenen Salatgurkenpflänzchen.

Kind 2 greift engagiert eine Anregung aus den Sozialen Netzwerken auf: Wir malen mit ihr einen großen Regenbogen und hängen ihn ins Fenster. Das soll vorbeigehenden Kindern signalisieren: Auch hier wohnt ein Kind, das zurzeit zu Hause bleiben muss. Irgendwie nimmt uns das ein wenig von unserer Ohnmacht. Wir haben etwas Sinnvolles getan.

Sonntagabend beim üblichen Tatort-Schauen seufze ich kurz in mich hinein: Morgen ist zwar wieder Montag – Alltag bedeutet das jedoch mitnichten.

Start in die neue Woche

Und da sind wir also nun, in Woche zwei. Unfreiwillig kitafrei, plötzlich Pädagogen, Psychologen, Caterer, Entertainer und Boxsack in einem. Es ist anstrengend, es stellt mein immer schon starkes Bedürfnis nach Autonomie auf eine harte Probe. Doch gleichzeitig beschert es uns auch immer wieder schöne Momente mit den Kindern. Gespräche, Kuschelzeit, Erlebnisse. Wir werden das packen. Gemeinsam.

Fotos: Birthe Müller-Rosenau (4) / David Schwarzenberg (1)

Ich bin gespannt wie es Euch so ergangen ist bisher. Schreibt doch gerne einen Kommentar dazu. Und bleibt vor allem gesund und voller Hoffnung.

Zum Stöbern: Weitere Folgen der Kolumne

    Teile diesen Beitrag!
    Birthe

    Mama von Zwillingen und einer Großen, Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation und Journalistin, lernt mit Begeisterung neue Dinge. Sie schwankt zwischen Freude und Verzweiflung über ihre lebendige Familie.

    Leave a Reply