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Für alle, die sich in einem Gedankenkarussell befinden, die gern Gefühle verdrängen, die Angst vor der Wucht heftiger Gefühle haben oder die grundsätzlich eher kopfmäßig unterwegs sind, gibt es einen anderen Weg, zu den Bedürfnissen vorzudringen. Ich möchte aber keine allzu großen Hoffnungen wecken: auch bei diesem Ansatz kommen wir irgendwann nicht mehr am „Fühlen“ vorbei. Das ist dann nur etwas einfacher und nicht mehr so „bedrohlich“. Für Kopf- und Businessmenschen lauten die Leitfragen hier nicht „Was fühlst Du – was brauchst Du?“, sondern „Was denkst Du? Was ist das Problem? Was bewirkt es? Was hättest du gern? Was würde sich da für Dich erfüllen?“ Zu Veranschaulichungs- und Übungszwecken versuche ich, den Klärungsprozess modellhaft als einen schrittweisen, linearen Ablauf darzustellen.

Schritt 1: Was denkst Du? Gedanken formulieren oder aussprechen

Als Beispiel nehme ich einen meiner eigenen Gedanken von letzter Woche:
„Ach je, das kann ja heiter werden, wenn wegen Schulschließung demnächst die Kinder den ganzen Tag zu Hause sind!“
Mein erster Gedanke lautet „Ach je, das kann ja heiter werden, wenn wegen Schulschließung demnächst die Kinder den ganzen Tag zu Hause sind!“ Im Selbstempathieprozess führe ich nun folgenden Dialog mit mir selbst:

„Wenn die Kinder den ganzen Tag zu Hause sind, was denke ich, was dann passieren wird?“ – „Naja, wir werden wahrscheinlich aufeinander hocken, gereizt und genervt sein. Vielleicht gibt es dann mehr Streit? Außerdem muss ich mich dann die ganze Zeit um sie kümmern und habe viel weniger Zeit für mich. Und wann bitte schön soll ich dann noch arbeiten?“

„Und – ist da noch mehr? Was ist Deine größte Befürchtung?“ „Na, im schlimmsten Fall gibt es ständig Krach. Ach, ich weiß gar nicht, wie ich die drei dann auseinanderhalten soll, ich kann mich doch nicht dreiteilen! Jeden auf sein Zimmer schicken, das hat noch nie funktioniert! Hoffentlich brülle ich dann nicht wieder so viel.“

Wenn meine Gedanken beginnen, sich zu wiederholen, oder wenn ich „leergedacht“ bin und keine neuen Gedanken mehr kommen, dann wende ich mich dem nächsten Schritt zu. Es ist übrigens sehr hilfreich, all die Gedanken schriftlich festzuhalten, damit man sich einen nach dem anderen vornehmen kann.

Schritt 2: Die eigentlichen Probleme herauslösen

Ich leite mich nun durch meine Gedanken, indem ich mich selbst zitiere und mich frage: Was ist dann genau das Problem?

Beispiel (es folgt wieder ein selbstempathischer innerer Dialog):
Zitat 1: „Wir werden wahrscheinlich aufeinander hocken“
„Was ist das Problem?“
„Naja, wir können uns halt nicht aus dem Weg gehen.“
„Was ist daran problematisch?“
„Naja, wir werden gereizt und genervt sein. Vielleicht gibt es dann mehr Streit?

„Was ist hier das Problem?“
„Naja, wenn wir gereizt und genervt sind und es mehr Streit gibt, dann ist die Gesamtstimmung schlecht. Dann geht es uns allen nicht gut. Ich habe auch oft nicht die Kraft und auch echt keine Lust, ständig Geschwisterstreit zu begleiten. “

„Und was wäre dann?“
„Dann könnte ich nicht so liebevoll mit meinen Kindern umgehen, wie ich es eigentlich gern täte.“

Zitat 2: „Und wann bitte schön soll ich dann noch arbeiten?“
„Was ist das Problem?“
„Wenn ich nicht mehr arbeiten kann, dann verliere ich möglicherweise Aufträge. Und meine Kunden erleben mich als unzuverlässig. Oder die Qualität entspricht nicht meinen Ansprüchen.“

„Und was wäre daran schlimm?“
„Naja, ich möchte schon als professionelle und zuverlässige Person gesehen werden. Und ich möchte auch weiterhin Geld verdienen. Ich bin zwar nicht darauf angewiesen, aber wenn ich jetzt aufgrund fehlender Arbeitszeit Aufträge verliere, dann muss ich später wieder neue Aufträge an Land ziehen – möglicherweise habe ich dann aber einen schlechten Ruf. Oder die Aufträge werden an andere vergeben. Dann habe ich nicht mehr diese sinnbringende Arbeit.“

Wir könnten jetzt noch viel mehr Zitate bearbeiten und tiefer gehen und die Gedanken weiterspinnen – zu Veranschaulichungszwecken reicht das hier bereits vollkommen aus.

Schritt 3: Probleme in unerfüllte Bedürfnisse übersetzen

Jetzt können wir die vertiefenden Gedanken und herausgelösten Probleme auf mehr oder weniger versteckte Bedürfnisse hin untersuchen. Manch ein Bedürfnis wurde schon explizit genannt, andere Bedürfnisse wollen noch aufgespürt werden. Hilfreich ist hierbei dann die Frage „Was hätte ich gern? Was würde sich dabei für mich erfüllen?“. Ich kann nun den Dialog nochmal Satz für Satz durchgehen.

„Naja, wir können uns halt nicht aus dem Weg gehen.“
Was hätte ich gern? Ich hätte gern, dass wir uns aus dem Weg gehen können. Was würde sich dann für mich erfüllen? Ich hätte mehr Raum für mich, meine Freiheit.

„Naja, wir werden gereizt und genervt sein. Vielleicht gibt es dann mehr Streit?“
Was hätte ich gern? Ich hätte gern, dass wir alle friedlich sind, und keinen Streit haben. Was würde sich dann für mich erfüllen? Harmonie, Frieden, Ruhe, Entspannung.

Naja, wenn wir gereizt und genervt sind und es mehr Streit gibt, dann ist die Gesamtstimmung schlecht. Dann geht es uns allen nicht gut. Ich habe auch oft nicht die Kraft und auch echt keine Lust, ständig Geschwisterstreit zu begleiten. “
Was hätte ich gern? Ich möchte, dass es allen gut geht. Ich hätte gern Kraft und Energie. Was würde sich dadurch für mich erfüllen? Wenn es allen gut geht, dann glaube ich, dass wir die Zeit gut überstehen können. Es geht wohl um Fürsorge. Ich denke, ich bin verantwortlich, also würde ich hier meinen Teil der Verantwortung übernehmen. Auch Perspektive und Hoffnung stecken hier drin. Kraft und Energie brauche ich, um meine Handlungsfähigkeit aufrecht zu erhalten.

 „Dann könnte ich nicht so liebevoll mit meinen Kindern umgehen, wie ich es eigentlich gern täte.“
Was würde sich dann für mich erfüllen? Ich möchte im Einklang mit meinen Werten handeln.

„Oder die Qualität entspricht nicht meinen Ansprüchen.“
Was hätte ich gern? Dass die Qualität meiner Arbeit meinen Ansprüchen genügt.“Was würde sich für mich dadurch erfüllen? Qualität, Selbstvertrauen, Selbstwert

 „Naja, ich möchte schon als professionelle und zuverlässige Person gesehen werden.“
Was hätte ich gern? Ich hätte gern, dass sich die Kunden auf mich verlassen können. Was würde sich für mich erfüllen? Vertrauen

„Und ich möchte auch weiterhin Geld verdienen.“
Was würde sich für mich erfüllen? Ich würde meinen Beitrag leisten zum Familieneinkommen. Vielleicht auch Unabhängigkeit, wirtschaftliche Sicherheit, Freiheit?

„Ich bin zwar nicht darauf angewiesen, aber wenn ich jetzt aufgrund fehlender Arbeitszeit Aufträge verliere, dann muss ich später wieder neue Aufträge an Land ziehen – möglicherweise habe ich dann aber einen schlechten Ruf. Oder die Aufträge werden an andere vergeben.
Was hätte ich gern? Eine stabile Auftragslage und keine Mühe bei der Akquise. Was würde sich für mich erfüllen? Kontinuität, Stabilität, Struktur und Ordnung, Leichtigkeit.

„Dann habe ich nicht mehr diese sinnbringende Arbeit.“
Was hätte ich gern? Eine Arbeit, die mir Spaß macht und die für mich Sinn hat. Was erfüllt sich dadurch für mich? Freude, Sinn.

Wie man sieht, steckt in diesem recht kurzen inneren Dialog eine ganze Fülle an Bedürfnissen – und diesen konnten wir auf die Spur kommen, ohne die einzelnen Gefühle explizit zu benennen.

Gefühle sind präsenter als Gedanken

Warum ist dann der Weg über die Gefühle dennoch der, den uns die Gewaltfreie Kommunikation ans Herz legt? Ich glaube, das liegt daran, dass wir in den seltensten Fällen unsere Gedanken einzeln aufschreiben und dann, wie in diesem Beispiel hier, Satz für Satz zitieren und auseinandernehmen können. Ein Gedanke folgt auf den nächsten, manchmal geraten wir in ein Gedankenkarussell und alles dreht sich schneller und schneller. Der oben beschriebene zweite Ansatz, also Bedürfnissen mithilfe der Gedanken auf die Schliche zu kommen, erfordert, dass jeder einzelne Gedanke ganz bewusst gedacht wird, wir dann innehalten und die oben beschriebenen Schritte analytisch und klar vollziehen können. Ob wir jedoch in einem Gedankenstrudel noch in der Lage sind, analytisch, klar, Schritt für Schritt vorzugehen…? Ich für meinen Teil kann sagen: wenn ich in einer bewertenden, von Sorge und Ängsten oder Wut getriebenen, eher gewaltvollen Art und Weise des Denkens bin, fällt es mir sehr schwer, mich mit den Bedürfnissen zu verbinden. Die Schritt-für-Schritt-Vorgehensweise von oben eignet sich für mich entweder gut, wenn ich andere Menschen empathisch begleite (und mir einzelne Aussagen einfach merke oder notiere), oder wenn ich tatsächlich meine Gedanken schriftlich festhalte (z.B. in meinem „Wolfstagebuch“).

Der Vorteil der Ableitung von Bedürfnissen aus Gefühlen ist, dass die Gefühle im Hier und Jetzt unmittelbar spürbar sind, oder dass ich mich in eine Situation hineinfühlen und dann die Gefühle und Bedürfnisse erforschen kann. Gefühle sind deutlich präsenter als Gedanken, und meine Achtsamkeit lässt sich viel leichter auf meinen Körper lenken, als auf Gedanken, die sich im Kopf überschlagen. Die ich mir alle gar nicht merken kann und die bewertenden Charakter haben.

Gefühle sind nicht wertend. Sie sind einfach da.

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