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Woche drei – zwischen Lagerkoller und Leichtigkeit, Chaos und Kreativität, Unsicherheit und Zusammenhalt. Was sich in unserem Mikrokosmos und in der Gesellschaft durch Corona (vorübergehend) verändert.

Wir sitzen alle gemeinsam vorm Fernseher und schauen irgend so eine Teenie-Schnulze. Plötzlich schreit unser Jüngster: „Nein, die dürfen sich nicht küssen! Das ist viel zu nah, die bekommen doch Corona!“ Er ist ganz aufgeregt, und ich für einen Moment gleich mit. Dann schlage ich mir innerlich vor die Stirn und denke: So weit ist es nun also schon gekommen. Wir reagieren auf Menschen, die sich näher als zwei Meter kommen, mit Angst und Panik. Unsere Verwandlung hat nicht einmal einen Monat gedauert, denke ich weiter. Von äußerst sozialen und auch körperlich eher kontaktfreudigen Menschen sind wir zu Stubenhockern mutiert, die lieber in ihrem Kokon bleiben als sich nach „da Draußen“ zu begeben, wo überall die Gefahr lauert.

Was geht wohl in den Köpfen der Kinder vor?

Um es gleich mal vorwegzunehmen: Diese kurze Momentaufnahme spiegelt keineswegs meine neue Realität wider. Dafür bin ich schon viel zu lange auf dieser Erde als das ein paar Wochen alles auf den Kopf stellen könnten. Doch was ist mit meinen Kindern? Werden sie bald schon denken, so ist das jetzt eben – und so wird es immer bleiben? Ein gruseliger Gedanke. Und auch ein Gedanke, der mich zu einer weiteren Frage führt: Was geht eigentlich den ganzen Tag in diesen kleinen Köpfen vor sich? Was wir gerade äußerlich wahrnehmen: Die Kinder sind lauter und unruhiger als sonst, leichter gereizt, streiten sich mehr. Gleichzeitig sind sie sehr aufmerksam, lauschen den Nachrichten im Radio („Mama, mach‘ mal lauter, die erzählen da was über Corona.“) und bestehen darauf, abends die Kindernachrichten zu gucken. Mein Eindruck: Sie suchen nach einem Anker, nach positiven Meldungen, danach, dass jemand verkündet: Ab morgen dürft Ihr wieder raus!

Beziehungen werden gestärkt – und auf die Probe gestellt

Und ich bin ganz ehrlich: Danach suche ich auch. Vielleicht projiziere ich also diese Gedanken sogar nur auf meine Kinder. Nach wie vor versuchen wir Tag für Tag das Beste aus der Situation zu machen. Wann haben wir schon mal so viel Zeit, unsere Werte an die Kinder weiterzugeben, ihnen und ihren Ansichten zuzuhören, sie vielleicht sogar noch einmal von einer ganz anderen Seite kennenzulernen? Wir stärken Beziehungen und Verbindungen zu jedem Einzelnen – gleichzeitig werden die Beziehungen auch auf eine harte Probe gestellt. Oder um es vereinfacht zu sagen: Wir nerven uns gegenseitig so richtig ab. Und es gibt kein Entkommen. Ständig hängen alle aufeinander. Lagerkoller!!!

„Corona-Ferien“ – nee, das ist kein Urlaub

Das kennen wir sonst so nur aus dem Urlaub. Nee, stimmt auch nicht. Der Wohnwagen, mit dem wir unterwegs sind, ist zwar eng, doch gleichzeitig ist alles ganz weit: Die Kinder genießen fast grenzenlose Freiheit, erkunden die Gegend mit ihren Fahrrädern und finden schnell Anschluss bei den anderen Kindern. Sie brauchen uns als Spielpartner dann nicht. Es ist eher so, dass wir uns ihnen gerne ab und an als dieser anbieten, wir bewusst Zeit mit ihnen verbringen wollen. In unserem „Alltag“ nun läuft hingegen vieles noch weiter (Schule, Arbeit), es waren bisher eben keine „Corona-Ferien“. Und was weiterläuft, das ist beschwerlicher geworden.

Ist doch eigentlich ganz schön da draußen. Dennoch: die Unbefangenheit ist verloren gegangen.

Der Wocheneinkauf für fünf Personen ist ungleich zeit- und nervenraubender als früher, jeder Ausflug nach draußen mit hoher Konzentration verbunden. Nichts anfassen, nicht zu laut reden, damit keine Tröpfchen fliegen, Hände aus dem Gesicht halten. Selbst bei der Gassi-Runde mit dem Hund ist die frühere Unbefangenheit weg: Schaffe ich es, den Mindestabstand einzuhalten, wenn der Park mit Spaziergängern übervölkert ist? Und wieder sind es die Kinder, die es fast erschreckend schnell verinnerlicht haben. Sie hüpfen manches Mal fast ins Gebüsch, wenn uns jemand entgegenkommt und rufen: „Abstand Mama!“. Alle drei könnten inzwischen Ärzte oder OP-Schwestern werden, so akribisch wie sie die einzelnen Schritte des Händewaschens befolgen. Klar, Händewaschen macht Sinn. Dennoch widerstrebt es mir, plötzlich peinlichst auf Hygiene achten zu müssen. Wo ich doch immer eher der Meinung war: Ein bisschen Dreck hat noch keinem geschadet und stärkt die Abwehrkräfte.

Soziale Distanzierung macht etwas mit uns

Nein, in so einer Welt will ich nicht leben. Ich möchte wieder raus, wieder Freunde und Familie treffen, zufällige Begegnungen auf der Straße und im Supermarkt haben, ohne mich fragen zu müssen: Wie lange darf ich mich jetzt wohl unterhalten, ehe die „Corona-Polizei“ das schon als Verstoß gegen das Kontaktverbot ansieht? Denn auch das beobachte ich: Menschen denunzieren andere, wenn diese sich nicht an die Regeln halten. Es bricht mir fast das Herz als ich in einer Videokonferenz mit liebgewonnen Menschen sehe, wie sie alle an der Situation knabbern. Jeder auf seine Weise. Soziale Distanzierung macht etwas mit uns. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft ist eines unserer psychischen Grundbedürfnisse. Es ist genauso wichtig wie Essen oder Trinken.

Die schönen Momente: Fast täglich werden wir von unserer Tochter mit neuen Rezepten verwöhnt.

Gerade in dieser Zeit bin ich so dankbar, dass ich die Gewaltfreie Kommunikation habe. Spüre ich manchmal, wie ich innerlich zu verhärten drohe, dann reicht ein Kontakt mit anderen GFK-Übenden, um mich zurückzuholen. Denn ich bin ein empathischer Mensch und ich möchte es auch bleiben. Und ich möchte, dass meine Kinder, die gesamte heranwachsende Generation, sich ihre angeborene Empathiefähigkeit bewahrt. Trotz Corona, nein vielleicht sogar gerade WEGEN Corona. Denn zeigt uns die aktuelle Situation nicht absolut glasklar, dass es im Leben auf mehr ankommt als Erfolg und Reichtum, dass uns höher, schneller, weiter gerade überhaupt nichts mehr nutzt? Ich sehe es nach wie vor als Chance für einen sozialen Wandel. Die Menschen rücken wieder näher zusammen, sie helfen einander, bilden Netzwerke und suchen den Kontakt – nun eben per Videocall, Telefonat oder Brief. Was für ein Geschenk ist da das empathische Zuhören – und das geht auch über weitaus größere Distanzen als zwei Meter.

Vor allem aber geht es in der eigenen Familie. Ich möchte das jetzt als Übungsfeld für mich nutzen, mich geistig entkrampfen und vom „man muss aber“ und vom „du solltest lieber“ verabschieden. Apropos verabschieden: Auf mich wartet jetzt eine Revanche in der Kissenschlacht…

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    Birthe

    Mama von Zwillingen und einer Großen, Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation und Journalistin, lernt mit Begeisterung neue Dinge. Sie schwankt zwischen Freude und Verzweiflung über ihre lebendige Familie.

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