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Jeder der Kinder hat, kennt solche Situationen: Plötzlich sehe ich nur noch Rot, spüre einen wahnsinnigen Druck in mir und drohe im nächsten Moment regelrecht in die Luft zu gehen, einfach zu explodieren. In der heutigen Elterngeneration tun wir das meist verbal: Wir schreien und toben, die Worte fliegen wie Geschosse aus unserem Mund und prasseln auf die Kinder nieder.

Am Ende ist das Druckgefühl dann zwar weg, immerhin, dafür stellt sich oft ein schales Gefühl von Schuld und Scham ein. Ich wollte mein Kind doch nicht anbrüllen. Und schon gar nicht, weil ein Glas umgekippt ist oder es fröhlich mit seinen Geschwistern durchs Haus getobt ist. Ja aber…ich habe doch auch Bedürfnisse, nicht nur mein Kind! Und ich habe doch auch ein Recht darauf, dass diese gesehen werden. Genau um solche Situationen soll es hier im Text gehen.

Unterdrücken hilft leider nicht

Wut oder Ärger zu unterdrücken, funktioniert vielleicht für den Moment. Es verlagert das Problem allerdings nur. Der Kessel explodiert in der Regel trotzdem, nur eben etwas später – dafür vielleicht um so heftiger. Was also tun? Eine Möglichkeit, die die GFK uns anbietet, ist der so genannte „Giraffenschrei“. Ich teile meine starken Gefühle mit meinem Gegenüber, lasse also alle Energie raus, bleibe aber gleichzeitig komplett bei mir.

„Der hier vorgestellte Prozess unterstützt uns jedoch nicht darin, die Wut zu ignorieren, klein zu machen, zu unterdrücken oder herunterzuschlucken, sondern sie stattdessen aus vollem Herzen und in ihrer ganzen Wucht auszudrücken.“

Marshall B. Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation

Ich könnte also etwas rufen wie: „Aaaaaaahhhh, das ist mir gerade alles zu viel, ich bin müde und frustriert, ich brauche dringend Ruhe. Ich gehe mal eben vor die Tür, beruhige mich ein wenig, und bin dann in ein paar Minuten wieder zurück.“ Eine solche Aussage setzt voraus, dass ich meine Gefühle (müde, frustriert) und meine Bedürfnisse (Ruhe) noch sehen und artikulieren kann. Vielleicht kann ich den anderen sogar noch empathisch abholen: „Ich sehe, ihr habt gerade totalen Spaß beim Spielen und es freut mich, euch so fröhlich zu sehen. Gleichzeitig…“ … und dann kommt mein Giraffenschrei.

Ganz ehrlich: Wenn es in mir kocht, dann schaffe ich das nicht mehr. Dann kommt oft auch nur noch ein unvollständiger Schrei aus mir raus. Wobei Ihr Schrei nicht wörtlich nehmen braucht, es ist sogar absolut hilfreich, weiter in einer ruhigen Lautstärke zu sprechen.

Notfallschrei in sechs Dramastufen

Für den Inhalt des „Giraffenschreis“ orientiere ich mich an den vier Schritten (nach Marshall Rosenberg), sie bringen mich mit mir selbst in Verbindung

  1. Beobachtung  -> Es ist Bettzeit. Die Kinder rennen durchs Haus und haben noch keine Zähne geputzt. Ich beobachte die Gefühle in mir selbst: Ich habe Wut im Bauch, brodele innerlich.
  2. Gefühle -> Ich bin unter Druck.
  3. Bedürfnisse -> Ich brauche Ruhe und Raum für mich.
  4. Bitte -> Ich werde fünf Minuten rausgehen, okay?

Vollständig könnte mein Schrei aus dem Beispiel jetzt lauten: Es ist Bettzeit, ich habe euch gebeten, eure Zähne zu putzen. Jetzt rennt ihr durchs Haus. Ich bin wütend, ich brauche jetzt Ruhe und gehe fünf Minuten raus und komme wieder, okay?
Bekanntlich sind wir nicht immer gleich gut mit uns verbunden, unser Bedürfnis-Tank nicht immer gleich gut gefüllt und wir somit manchmal deutlich schneller genervt oder der Explosion nahe. Daher gibt es den Giraffenschrei in mehreren „Dramastufen“.

  • Dramastufe 1: Beobachtung weglassen – Ich bin wütend und brauche Ruhe. Ich bin in fünf Minuten wieder da, okay?
  • Dramastufe 2: Gefühl weglassen – Ich brauche Ruhe. Ich bin in fünf Minuten wieder da, okay?
  • Dramastufe 3: Bedürfnis weglassen – Ich werde jetzt den Raum verlassen, okay?  Wir können das auch „gewaltfrei Flüchten“ nennen. Eine Strategie, die wir durchaus auch unseren Kindern vorleben können. Ich steige (jetzt) nicht in den Konflikt ein, sondern sorge zunächst gut für mich. Eventuell komme ich später auf das Thema noch einmal zurück. Vielleicht hat es sich bis dahin jedoch auch erledigt.
  • Dramastufe 4: Ich nehme einen tiefen Atemzug und verlasse den Raum.
  • Dramastufe 5: Laut fluchen, dann gehen – Ich habe auf diese Weise meine Energie abgegeben und verspüre dadurch (für einen Moment) Erleichterung.
  • Dramastufe 6: Nicht mehr gewaltfrei. (Gemeint ist hier auch jede Art von psychischer Gewalt oder Erniedrigung, also etwa den anderen für meine Gefühle verantwortlich machen – Immer bringt ihr mich auf die Palme! Was seid ihr bloß für Kinder?)

Als Chance zum Lernen begreifen

Spätestens mit Dramastufe 6 fühlen wir uns unwohl, wenn wir den Wunsch haben, mit uns selbst und unseren Mitmenschen gewaltfrei zu kommunizieren. Und wenn es doch passiert? Dann bietet sich uns eine wunderbare Chance, daraus zu lernen und zu üben. Wir können die Situation im Nachhinein analysieren. Also dann, wenn der Puls wieder im Normalbereich ist. An welcher Stelle hätte ich einen anderen Abzweig nehmen können? Ich kann mein gewünschtes Verhalten visualisieren, mir also möglichst detailreich vor meinem geistigen Auge vorstellen. Was hätte ich gesagt oder getan?

Unerfüllte Bedürfnisse oder Glaubenssätze könnten der Schlüssel sein

Wenn ich dieses Bild habe, kann ich mich fragen: Was hindert mich daran, das zu tun? Dahinter können unerfüllte Bedürfnisse stecken. Vielleicht verbergen sich dahinter auch Glaubenssätze, also tief in mir verinnerlichte Annahmen, die sich oft schon in der eigenen Kindheit manifestiert haben. In unserem Beispiel könnten das sein: Was ich möchte, zählt nicht. Keiner hört mir zu. Ich bin nicht wichtig. Da lohnt es sich, noch einmal genauer hinzuschauen – das würde den Rahmen hier allerdings sprengen. Ich kann mich fragen: Was hätte ich gebraucht, um so zu handeln wie ich es gerne möchte? Und wie kann ich fürs nächste Mal vorsorgen? Das geht nicht von heute auf morgen, gelingt mit Training jedoch immer besser. Hilfreich könnten auch Achtsamkeits- oder Atemtechniken sein. Ich trainiere selbst seit längerem, Tiefes Atmen zum Automatismus werden zu lassen, wenn ich in Not bin. Entweder sage ich mir das selbst (leise oder laut): „Atmen!“ Ich kann aber auch meine Kinder zu Verbündeten machen und sie bitten, mich in solchen Situationen aufzufordern: „Mama, hol‘ mal tief Luft“. Sie sehen es mir sowieso meistens an, wenn ich kurz vorm Platzen bin.

Konkrete Formulierungshilfen, wie ich mit Kindern über Gefühle und Bedürfnisse sprechen kann, findet Ihr in unserer Facebook-Gruppe

Schreibt gerne in die Kommentare, was Eure immer wiederkehrenden herausfordernden Situationen sind. Gibt es Sätze, die Euch dann weiterhelfen? Oder gibt es Sätze, die Ihr Euch von uns wünscht? Wir tragen gerne dazu bei, Formulierungen zu finden, die für Euch passen.

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Birthe

Mama von Zwillingen und einer Großen, Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation und Journalistin, lernt mit Begeisterung neue Dinge. Sie schwankt zwischen Freude und Verzweiflung über ihre lebendige Familie.

2 Comments

  • Constance sagt:

    Wunderschön geschrieben. Ich erkenne mich in vielen Situationen wieder. Und das Bild… genial! 😍

  • Nasima sagt:

    Ich wünschte ich würde es nur annähernd hinbekommen gewaltfrei zu kommunizieren, aber weder mein Partner noch ich schaffen das. Ich noch etwas eher als er, aber auch nur mit den Kindern. Oft bin ich auch so genervt von ihm und unserem 32 Monate altem Sohn, dass ich gemein werde. Ich gebe vor allem meinem Partner die Schuld und spreche leider auch schlecht über ihn vor dem Kind, was ich unbedingt in Zukunft lassen möchte. Ich denke mittlerweile, dass er einfach nicht wirklich als Vater geeignet ist und ich selbst auch nicht gut genug als Mutter bin, aber ich sehe zumindest meine ganzen Fehler und bemühe mich, es besser zu machen. Ich habe große Probleme bei mir zu bleiben, wenn es nicht so läuft wie ich es für richtig halte, sondern mache meinem Partner dann Vorwürfe. Wirklich viel anderes fällt mir aber bei ihm auch nicht ein, da alles reden nicht hilft. Eine Situation von vorhin zum Beispiel: Unser Sohn hatte keinen Nachmittagsschlaf, war also dementsprechend aufgedreht und ich habe ihm noch die Zähne geputzt, was einigermaßen gut geklappt hat. Danach waren seine jüngeren Geschwister (Zwillinge, 20 Monate) dran. Ich habe mehrfach gesagt, dass der Vater auf den „Großen“ achten soll, während ich den beiden die Zähne putze weil er das nicht machen will. Aber trotzdem musste ich ständig nach dem Kind gucken, weil der Vater der Kinder es nicht geschafft hat mal paar Minuten nicht aufs Handy zu gucken. So ein Verhalten ist doch nicht mehr normal. Er könnte den Kindern auch die Zähne putzen, aber ich muss es machen, was allein schon etwas nervig ist, aber noch okay für mich, Hauptsache es wird gemacht. Doch dann sollte er zumindest kurz auf unseren Sohn achten, wenn er genau weiß, dass dieser eigentlich mit mir rüber wollte zum Stillen und Ausruhen. In solchen Situationen bin ich extrem genervt, weil ich mich kümmere, aber gar nicht allen drei Kleinkindern gerecht werden kann, mein Partner sich aber weitestgehend raus hält weil er keine Geduld oder Lust hat. Ich weiß ich kann nur an mir arbeiten, trotzdem frage ich mich manchmal, wie jemand so unfähig sein kann und wie ein Spiel auf dem Handy wichtiger sein kann als unsere Kinder…

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