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Was kann uns helfen in stressigen Situationen gelassen, empathisch oder gar wohlwollend zu bleiben und unsere Konflikte im Sinne der GFK als Chance zu sehen? Klar: eine Auszeit wäre super. Mal wieder entspannt ins Kino gehen. Yoga. Ein Kurzurlaub. Ist nur momentan alles nicht drin! Denn die meisten unserer Lieblingsstrategien, mit denen wir uns als Eltern Bedürfnisse nach Raum für uns, Ruhe oder Selbstbestimmung erfüllen, sind derzeit entweder nicht verfügbar oder schlichtweg zu zeitintensiv. 

Es gibt da etwas, das wir in so ziemlich jede Lebensphase integrieren können: den H.E.A.L.-Prozess nach Rick Hanson. Um ihn soll es in diesem Text gehen. Darum, das zu nutzen, was schon da ist. In der Zeit, die wir ohnehin mit unseren Lieben verbringen. Ich möchte Dich gerne einladen, Dich zu fragen: Was wäre, wenn wir unsere Gehirne so programmieren könnten, dass nicht nur umgefallene Milchgläser, sondern auch die Momente tiefer Verbindung nachhaltig in unsere grauen Zellen einsickern könnten? Was wäre, wenn wir dadurch den kleinen und großen Katastrophen des Corona-Familienalltags ein wenig entspannter und gelassener begegnen könnten? 

Ein Gedankenspiel

Nehmen wir mal an, wir haben an einem typischen #Stayathome-Tag die meisten brenzligen Situationen mit unserem Kind so gelöst, dass sich alle am Ende dabei wohl gefühlt haben. Aber eine, echt nur EINE dieser Situationen ist völlig in die Hose gegangen. Wir sind ausgeflippt, haben unser Kind angebrüllt, welches daraufhin völlig aufgelöst in sein Zimmer gerannt ist. Gewaltfreiheit? Fehlanzeige. Empathie? Gleich Null. Wir haben‘s wieder einmal vermasselt. Wieder einmal? Moment. Eine Situation von wie vielen? Vielleicht zehn. Und trotzdem sind die restlichen neun mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die Situationen, die wir vor dem Zubettgehen ganz intuitiv feiern möchten. Wieso eigentlich?

Die Negativitätstendenz unseres Gehirns

Evolutionsbedingt hat unser Gehirn in den letzten Jahrtausenden gelernt, kritische Ereignisse als relevanter einzustufen als die erfreulichen. Denn als wir noch gegen Säbelzahntiger unterwegs waren, war es für uns aus Überlebenssicht einfach wichtiger, uns daran zu erinnern, wann dieser Säbelzahntiger unseren Weg kreuzen könnte. Die wunderbare Verbindung, die wir gestern Abend am Lagerfeuer mit unseren Mitmenschen vielleicht gespürt haben, musste in unserem Gedächtnis aus Gründen der Effektivität erst einmal weichen. Es ging vielmehr darum, sich stets – und ohne großes Nachdenken – daran zu erinnern, wie wir am besten überleben.

Und das erledigte unser Gehirn so zuverlässig, dass sich über die Jahrtausende der sog. NEGATIVITY BIAS, die Negativitätstendenz, entwickelt hat. Forscher, wie z.B. der US-amerikanische Neuropsychologe Rick Hanson, schätzen, dass sich Negativerlebnisse im Vergleich zu Positiverlebnissen in einem Verhältnis von 5:1 im Gehirn verankern. Wenn wir also die suboptimal gelaufene Konfliktlösungsstrategie mit unserem Kind als fünfmal wichtiger einstufen als die Lösungen, die zur Harmonie in der Familie beigetragen haben, liegt auf der Hand, dass wir am Ende des Tages frustriert sind.

Der Lockdown macht uns sensibler für stressige Situationen

Wirft dann am nächsten Morgen unsere Prinzessin aus Versehen das Milchglas vom Frühstückstisch, fühlen wir uns als käme gerade der Säbelzahntiger um die Ecke, um uns zu frühstücken. Alles auf Alarm!!! Das Ergebnis nach fast vier Wochen Quasi-Lockdown? Wir werden zunehmend sensibler für stressige Situationen, während unsere Fähigkeit, unsere Affekte zu kontrollieren, sinkt: eine Abwärtsspirale.

Keiner weiß, wie lange wir noch #zuhausebleiben werden. Keiner weiß, ob es jemals wieder so sein wird wie früher oder ob das überhaupt erstrebenswert ist. Vieles ist unklar. Eins jedoch nicht: Dass uns als Eltern weder eine hochsensible Alarmglocke noch eine sinkende Affektkontrolle dabei helfen werden, gewaltfrei mit unserer Familie zusammenzuleben. 

Dem Guten intensiv Beachtung schenken

Was können wir als tun? Jedes Mal, wenn wir bemerken, dass wir gerade einen schönen Moment erfahren, können wir diesen Moment ganz bewusst in uns aufnehmen und unser Gehirn ganz allmählich offener für das kleine Alltagsglück machen. Wir können „positive Erfahrung absichtlich in unserem impliziten Gedächtnis internalisieren“, beschreiben umfangreiche Studien zur Neuroplastizität des Gehirns. Und keine Sorge, es geht um mehr als positivistische Affirmationen à la „Ich bin super entspannt!“ oder „Ich bin mega toll!“. Es geht darum, dem Guten in unserem Leben echte Beachtung zu schenken, es in uns aufzunehmen und unsere Stärken weiter auszubauen. 

Der H.E.A.L. Prozess

Der H.E.A.L.- Prozess nach Rick Hanson umfasst 4 Schritte und steht für 1.) HAVE = Haben, 2.) ENRICH = Anreichern, 3.) ABSORB = Aufnehmen bzw. Internalisieren und 4.) LINK = Verknüpfen

  1. HAVE: Du fängst im Familienalltag einen wunderbaren Moment ein. Vielleicht lächelt Dich Dein Kind auf eine ganz besondere Weise an. Vielleicht sagt oder tut es etwas, das Dein Herz berührt. Oder Du selbst hast eine Konfliktsituation genau so gelöst, wie Du es Dir immer gewünscht hattest. Registriere den Moment und halte einen Augenblick inne. 
  2. ENRICH: Nimm diesen kleinen, wunderbaren Moment mit all Deinen Sinnen in Dich auf, gib ihm Zeit und Bedeutung. Atme die Wärme des Momentes ein, empfinde die Stimmung, die Energie, die fließt. Schau Dir das Gesicht Deines Kindes ganz genau an, registriere die kleinen Fältchen um die Mundwinkel und bestaune das Leuchten in seinen Augen. Geht es um Dich, feiere diesen Erfolg sobald Du ihn registriert hast. Spüre in Dich hinein: wie fühlst Du Dich jetzt, was ist da gerade lebendig? Verweile 5 bis 10 Sekunden in dem Moment. Analysiere nicht. Nimm ihn einfach nur mit allen Sinnen wahr. 
  3. ABSORB: Stelle Dir jetzt vor, dass dieser Moment für immer Teil von Dir sein wird. Dieser Schritt ist recht abstrakt, denn für jeden funktioniert er ein wenig anders. Wenn ich einen Moment bewusst in meinem Gehirn internalisieren möchte, stelle ich mir immer vor, dieser kleine Moment würde zerplatzen und Millionen winziger, glitzernder Regenbogen-Konfetti würden auf mich herabfallen und meinen Körper ganz und gar durchdringen – ähnlich wie Sonnenlicht. Du kannst Dir auch innerlich vorstellen, wie Du tief in diesen Moment eintauchst: schwerelos, leicht, unendlich. Was auch immer Du tust, tue es in der Absicht, diese eine Erfahrung gezielt und effektiv in Dein Unterbewusstsein zu befördern und dort abzuspeichern.
  4. LINK: Der vierte Schritt ist nicht immer ganz einfach, daher würde ich empfehlen, ihn als optional zu betrachten und sich zunächst auf die ersten drei Schritte zu fokussieren. Bist Du schon etwas geübter darin, „Gutes zu internalisieren“, versuche Dich gerne daran: dem Verlinken der aktuellen positiven Erfahrung mit früheren negativen Erfahrungen. Am Beispiel Deiner gut gelösten Konfliktsituation verbindest Du dieses positive Gefühl ganz vorsichtig und behutsam mit einer „Gegenerfahrung“, also einem Moment, in dem Du eine ähnliche Konfliktsituation vielleicht nicht ganz so lebensdienlich gelöst hast. Die Positiverfahrung bleibt sozusagen im Vordergrund, die Negativerfahrung dockt hinten an – und verliert dadurch an Präsenz. 

Du kannst auch schöne Momente verankern

Je öfter Du das Positive in dich aufnimmst, desto weniger markant, weniger wichtig, werden die Erfahrungen, die Dich am Ende des Tages frustriert, traurig und genervt zurücklassen. Weil Dein Gehirn mit etwas Übung die Fähigkeit entwickelt, auch die schönen Momente in Deinem Unterbewusstsein zu verankern. Und damit setzt Du eine wirklich lebensdienliche Spirale in Gang: Deine Bewusstheit steigt, Deine Selbstwirksamkeit steigt, die Anzahl gewaltfrei gelöster Konflikte steigt. Dein Stresspegel sinkt, die Frustmomente werden weniger, die Konflikte höchstwahrscheinlich auch. Und Deine Bedürfnisse? Ich vermute mal, dass vielleicht Harmonie, Selbstwirksamkeit, Leichtigkeit und Zuversicht weniger schnell in Not geraten. Was schon mal eine gute Basis für eine etwas entspanntere #staythome-Zeit ist.

“By taking just a few extra seconds to stay with a positive experience — even the comfort in a single breath — you’ll help turn a passing mental state into lasting neural structure.“

Rick Hanson, Hardwiring Happiness: The New Brain Science of Contentment, Calm and Confidence

Viel Spaß beim Ausprobieren! Und wenn Du uns ein Feedback zu diesem Beitrag geben oder Deine Erfahrungen mit uns teilen möchtest, schreibe gerne einen Kommentar. Wir freuen uns darauf!

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