In der Gewaltfreien Kommunikation dreht sich eigentlich alles um Empathie und Einfühlungsvermögen. Eine der Techniken, mit der wir uns beim Erlernen der Empathie in Seminaren beschäftigen, ist die „Empathische Vermutung“.
Sie ist ein machtvolles Instrument. Es gibt dabei jedoch einiges zu beachten.
Inhalt
Was machen wir bei der „Empathischen Vermutung“?
Wir hören jemandem zu, der uns eine persönliche Geschichte erzählt. Zum Beispiel von einem Problem oder einer herausfordernden Situation. In regelmäßigen Abständen äußern wir eine konkrete Vermutung: wie fühlt sich der andere angesichts der geschilderten Situation und worum geht es ihm eigentlich genau? Wir helfen ihm so, seine Gedanken, Urteile, Interpretationen und Bewertungen in eine lebensdienliche Sprache zu übersetzen.
Unsere Absicht dabei: den anderen unterstützen, mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen in Kontakt zu kommen. Denn dann gewinnt er Klarheit, kann eigene Lösungen entwickeln und ist (wieder) handlungsfähig.
Hilfe zur Selbsthilfe, sozusagen.
Achtung: Fallsticke!
Du stehst noch am Anfang deines GFK-Lernprozesses und willst das empathische Vermuten üben? Dann möchten wir dir hier acht mögliche Fallstricke vorstellen.
Erster Fallstrick: Behaupten statt vermuten
Wenn uns jemand etwas erzählt, können wir damit in Resonanz gehen.
Spiegelneuronen befähigen uns dazu, nachzuempfinden, was unser Gegenüber bei der Schilderung einer Erinnerung fühlt. Wir sehen und hören den anderen und erzeugen daraus eine Vorstellung von dessen Stimmung. Wir schlüpfen für einen Moment in die Schuhe unseres Gegenübers. Wissenschaftler nennen das Bild von der Welt des anderen, das die Spiegelneuronen in unserem Kopf enstehen lassen, die „Theory of Mind“.
Leider sind Spiegelneuronen täuschungsanfällig. Wir können nie sicher sein, ob das Bild, das wir von der Welt und dem Erleben des anderen haben, wirklich damit übereinstimmt. Es ist deshalb nicht hilfreich, Behauptungen über die Gefühle und Bedürfnisse des anderen aufzustellen. Stattdessen äußern wir Vermutungen und geben dem Anderen so die Gelegenheit, unser Bild zu bestätigen oder zu korrigieren.
Eine Vermutung ist dadurch gekennzeichnet, dass am Satzende stets ein hörbares Fragezeichen steht und wir zu einer Bestätigung oder Richtigstellung einladen.
Der Unterschied zwischen „Behauptung“ und „Vermutung“ ist in der GFK so wichtig, dass hier von einer „Schlüsselunterscheidung“ gesprochen wird. Wir erläutern sie in unserem GFK-Lexikon.
Zweiter Fallstrick: Einen Treffer landen wollen
Es geht bei der empathischen Vermutung nicht darum, richtig zu liegen.
Es ist nicht hilfreich, so lange empathische Vermutungen auszusprechen, bis man „einen Treffer gelandet“ hat. Wir vermuten Gefühle und Bedürfnisse bei unserem Gegenüber, um ihn in seinem Prozess zu unterstützen. Wir laden den anderen ein, in sich hineinzuhorchen, ggf. etwas richtigzustellen oder anders zu formulieren. So bringen wir ihn idealerweise mit sich selbst in Kontakt.
Für diese Absicht ist es irrelevant, ob die angebotenen Gefühle oder Bedürfnisse zutreffen.
Dritter Fallstrick: Kognitiv verstehen wollen
Beim empathischen Vermuten geht es nicht so sehr darum, den anderen kognitiv zu verstehen. Also das Gesagte mit dem Verstand zu erfassen.
Wenn wir versuchen, das Gesagte logisch nachzuvollziehen, entgeht uns möglicherweise der Kern der Botschaft. Denn nicht selten ist die emotionale Botschaft eine andere als das gesprochene Wort.
Wir sind eine wertvolle Stütze für unseren Gesprächspartner, wenn wir uns nicht von seinem Worten ablenken lassen, sondern uns einfühlen. Spüren. In emotionale Resonanz kommen.
Vierter Fallstrick: Zu lange überlegen
Als GFK-Frischlinge üben wir den achtsamen Umgang mit Sprache. Wir formulieren präzise, achten auf Details. Wir überlegen, welche Worte am besten zu dem passen, was wir spüren. Wenn wir jemand anderem zuhören und eine empathische Vermutung äußern wollen, dann überlegen wir, welches Gefühl das wohl ist, das wir da „gehört“ haben.
Überlegen bedeutet allerdings „im Kopf sein“. Die linke Hirnhälfte ist aktiviert, wir denken nach und bemühen den Verstand. Wir sind nicht (mehr) beim anderen. Wenn wir lange nachdenken über Gehörtes und passende Übersetzungen suchen, dann riskieren wir einen Verbindungsabbruch.
Beim empathischen Vermuten wollen wir in Verbindung kommen, ganz beim anderen sein. Lieber nicht zu lange überlegen, sondern aus dem Bauch heraus äußern. Muss ja nicht richtig sein, was wir da sagen (siehe Fallstrick 3). Wir vermuten nämlich nur (siehe Fallstrick 1). Hauptsache, wir lenken die Aufmerksamkeit des Erzählers immer und immer wieder zurück zu sich selbst, zu seinen Gefühlen und Bedürfnissen.
Fünfter Fallstrick: Etwas suchen, was nicht da ist
Manchmal denken wir als Zuhörer, dass da doch noch mehr sein muss als das, was wir an Gefühlen und Bedürfnissen bereits angesprochen („herausgefunden“) haben. Möglicherweise sind wir selbst mit der erzählten Geschichte in emotionale Resonanz gegangen. Dann sind bei uns selbst vielleicht intensive Gefühle und Bedürfnisse lebendig geworden. Wenn wir nun meinen, der andere müsse das doch genauso spüren, dann besteht die Gefahr, dass wir in unser eigenes Erleben eintauchen. Statt weiterhin nur zu paraphrasieren, was der andere gesagt hat.
Es ist nicht Ziel des empathischen Vermutens, etwas zu „finden„.
Und es ist nicht unser Job, das zu finden, was da ist. Wir sind „nur“ Prozessbegleiter.
Sechster Fallstrick: Lösungen suchen
Je nach Gesprächsdynamik und eigenem Erfahrungsschatz gerät der Zuhörer in Versuchung, passende Strategien und Lösungen vorzuschlagen. Gehen wir jedoch zu schnell auf die Strategie-Ebene, werden möglicherweise nicht alle Gefühle und Bedürfnisse gehört. Dann bleibt beim Gegenüber eine diffuse Unzufriedenheit.
Als Zuhörer sollten wir es dem Sprechenden überlassen, wann er sich auf Lösungssuche begibt. Es kann sogar eher hilfreich sein, den Sprechenden noch eine Weile auf der Bedürfnisebene „festzuhalten“ und eine vorschnelle Lösungssuche zu unterbinden.
Siebter Fallstrick: Den Prozess beschleunigen wollen
Es kommt vor, dass wir als Außenstehende meinen, die Problematik schon verstanden zu haben und eine Lösung zu sehen. Manchmal glauben wir, dass der Erzähler sich im Kreis dreht und scheinbar keine Fortschritte macht. Tatsächlich haben es Außenstehende oft leichter, Klarheit zu gewinnen, als die Betroffenen selbst.
Bei der Empathie ist jedoch zu bedenken: es geht nicht vorrangig um Lösungen; es geht um den Prozess. Der Weg ist das Ziel.
„Don’t push“ sagte Birthes GFK-Trainerin neulich zu ihrer Ausbildungsgruppe. „Lasst den Spechenden selbst das Tempo bestimmen.“ Möglicherweise möchte er Impulsen folgen, Denkanstößen nachspüren, Umwege gehen, oder schlicht dem Schmerz ausweichen, den er fürchtet? Es ist sein Prozess. Wir als Zuhörer folgen ihm und führen ihn nicht.
Spüren wir Ungeduld, weil es uns „nicht schnell genug geht“? Sind wir gelangweilt? Dann dürfen wir ehrlich sein. Uns selbst und dem anderen gegenüber. Wir können das Gespräch unterbrechen („Du, ich merke, dass meine Konzentration nachlässt, ich kann nicht mehr gut zuhören…“) und ggf. zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen.
(Zum Thema „Gewaltfrei unterbrechen“ planen wir demnächst einen Blogbeitrag.)
Achter Fallstrick: Verantwortung übernehmen
Ganz lapidar: Nur, weil ich zuhöre, heißt das nicht, dass ich am Ende auch etwas tun muss. Die Verantwortung, Lösungsstrategien zu finden, umzusetzen und die Bedürfnisse zu erfüllen, liegt beim Sprechenden. Wenn wir gern zu seinem Wohl beitragen möchten, können wir das anbieten und (freiwillig!) tun – Zuhören allein verpflichtet uns jedoch keinesfalls dazu!
Hier nochmal die 8 Fallstricke der empathischen Vermutung im Überblick:
1. Behaupten statt vermuten
2. Einen Treffer landen wollen
3. Kognitiv verstehen wollen.
4. Zu lange überlegen
5. Etwas suchen, das nicht da ist
6. Lösungen suchen
7. Den Prozess beschleunigen wollen
8. Verantwortung übernehmen
Hast du auch schon so deine Erfahrungen mit diesen Fallstricken gemacht?
Kennst du noch weitere?
Erzähl uns davon in den Kommentaren!