Skip to main content

In der Gewaltfreien Kommunikation möchten wir am liebsten alle Urteile außen vor lassen. Doch unser Hirn liebt es einfach, in Schubladen zu denken und Kategorien zu erstellen. Was nun?

Schublade auf, Mensch rein, Schublade zu. Das geht oft innerhalb von Sekunden. Weil ein Mensch etwas bestimmtes tut oder sagt. Weil uns jemand etwas über diesen Menschen erzählt. Vielleicht sogar schon, weil er einen bestimmten Namen hat oder in einer gewissen Stadt wohnt.

Nach vielen Jahren mit der Gewaltfreien Kommunikation bin ich einigermaßen sensibilisiert was Schubladen, Labels, Etiketten und – für mich der Sammelbegriff all dessen – Urteile angeht. Und eine der Fragen, die ich am häufigsten gestellt bekomme ist die folgende: „Birthe, wie schaffe ich es, nicht mehr zu urteilen? Ich merke, dass ich immer noch sehr oft bewerte.“ Kommt dir das bekannt vor?

Nicht mehr urteilen – Geht das?

Und vor allem: Ist das sinnvoll? Denn evolutionsbiologisch hat es ja durchaus einen Sinn, dass unser Hirn die Dinge blitzschnell in Kategorien packen kann. Giftig oder ungiftig? Freund oder Feind? Gefahr oder Spaß? Unsere Urteile können uns mitunter das Leben retten oder mindestens erleichtern. Und natürlich funktioniert das auch andersherum: Fehlurteile können uns Nerven, Geld, Zeit oder Schlimmeres kosten.

Daher ist es völlig natürlich, dass wir alle einen imaginären Schrank mit vielen Schubladen besitzen. Denn unser Hirn spart durch das Bilden von Kategorien Energie. Die Welt wird so einfacher und übschaubarer. Meist läuft dieses Einteilen in Schubladen unterbewusst ab. Wir sehen, hören, fühlen oder lesen etwas und gleichen es mit anderen, bekannten Situationen ab. So muss nicht jede der vielen Informationen, die täglich auf uns einprasseln, einzeln bewertet werden.

Um es also kurz zu machen: Ich bin der festen Überzeugung, dass es uns nicht gelingen kann NIE MEHR zu urteilen. Lass‘ uns doch mal genauer hinschauen, welche Vor- und Nachteile dieses „Schubladen-Denken“ denn noch für uns beinhaltet.

Schubladen haben durchaus auch ihr Gutes. Sie helfen dem Hirn, Energie zu sparen. Dennoch ist es wichtig, sich der Schubladen bewusst zu sein und sie kritisch zu hinterfragen. Erst recht, wenn es um Menschen geht.
Foto: Jan Antonin Kolar / Unsplash

Wie hilft uns Schubladen-Denken?

Zucker oder Salz? Ein Blick auf das Etikett bringt sofort Klarheit. Ablagesysteme für unsere Buchhaltung, unsere Mails oder auch private Dinge, bringen Zeitersparnis. Und wer für stimmige Kategorien bildet, der braucht nicht so lange zu suchen, bekommt Sicherheit und Orientierung.

Auch bei noch unbekannten Situationen kann es eine immense Entlastung für uns sein, wenn wir in unserem „Speicher“ (aka Gedächtnis) ähnliche Situationen finden, die wir schon erfolgreich gemeistert haben.

Ich möchte also dafür plädieren, das Schubladendenken zu rehabilitieren.

Zumindest in Teilen. Denn:

Schubladen, Labels und Co können uns auch im Wege stehen

Gerade in Bezug auf Menschen ist das „Kategorisieren“ schon eine deutlich komplexere Angelegenheit. Denn auch wenn sich Charaktereigenschaften vielleicht auf den ersten Blick ähneln, so ist nunmal jeder Mensch ein Unikat. Und Menschen handeln auch nicht immer gleich. An einem Tag sind sie vielleicht eher so, an einem anderen dann wieder anders.

Besonders knifflig wird es, wenn wir unser unvollständiges Bild von einem Menschen unbewusst mit Eigenschaften auffüllen, die dieser Mensch vielleicht gar nicht hat.

„Stereotype sind relativ emotionslose, neutrale Erwartungen und Vorstellungen, wie sich Mitglieder von Gruppen verhalten, wie sie aussehen und sich kleiden oder welche Fähigkeiten sie haben“, heißt es bei „Anti-Bias“, einer Info-Plattform über Forschungen zu und Strategien gegen unbewusste Vorurteile. Demzufolge sind Vorurteile zusätzlich mit Emotionen behaftet. Sie beinhalten negative und positive Bewertungen gegenüber Mitgliedern von bestimmten Gruppen.

Das ist insofern problematisch, als dass wir dementsprechend handeln (oft wieder unbewusst): Wir diskriminieren diese Personen oder lassen ihnen bestimmte Privilegien zukommen. Dies wiederum steht im Widerspruch zur Gleichwürdigkeit und Augenhöhe, die wir mit der Gewaltfreien Kommunikation ja anstreben.

Eine gute Verbindung zu dir selbst, deinen Gefühlen und Bedürfnissen unterstützt dich dabei, achtsamer zu sein für Urteile und dir diese bewusst zu machen. Ein entscheidener erster Schritt.
Foto: Fa Barboza / Unsplash

Mache dir das Unbewusste bewusst!

Ich habe hier immer wieder von unbewussten Handlungen und Prozessen geschrieben. Deshalb ist aus meiner Sicht die erste und wichtigste Maßnahme gegen Vorurteile und Schubladen-Denken eine Bewusstheit über unsere Gedanken und ein achtsamer Umgang mit Worten.

Ganz konkret heißt das: Mache es dir zur Gewohnheit, dich immer wieder zu fragen, ob ein Gedanke den du hast, wirklich wahr ist. Kannst du dir ganz sicher sein? Oder gibt es vielleicht auch Beweise für das Gegenteil?

Wenn du spürst, dass du Urteile hast oder mit starken Emotionen auf etwas reagierst, dann tritt einen Schritt zurück. Betrachte die Situation mit etwas Abstand (Das muss nicht unbedingt räumlicher Abstand sein, gedanklicher reicht auch).

Wenn etwas, das ein anderer sagt oder tut in dir Entsetzen hervorruft, gewöhne dir an nachzufragen. Gehe in Verbindung. Teile mit, was das Gesagte oder Getane in dir auslöst. Und bleibe dabei in einer neugierigen Haltung. Du kannst auch während eines Gesprächs etwas sagen wie: „Oh Mann, ich merke gerade, dass ich da echt Urteile über dich habe. Ich will mir das mal eben anschauen. Ist das in Ordnung für dich, wenn wir in ein paar Minuten weiterreden?“

Der beste Schutz vor Schubladendenken und voreiligen Schlüssen ist echtes Interesse und persönlicher Kontakt. Denn denke stets daran: Hinter jedem Urteil steckt ein Bedürfnis, das gesehen werden möchte.

Titelfoto: bs-matsunaga / Pixabay

Birthe

Mama von Zwillingen und einer Großen, Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation und Journalistin, lernt mit Begeisterung neue Dinge. Sie schwankt zwischen Freude und Verzweiflung über ihre lebendige Familie.

Leave a Reply