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Ehrlich gesagt würde es mich nicht wundern, wenn sich eines meiner Kinder irgendwann vor lauter Wut selbst in zwei Stücke reißt. So wie im Märchen vom Rumpelstilzchen. Wut ist ein riesiges Thema bei uns. Bei euch auch?

Für Eltern ist Wut gleich doppelt herausfordernd. Auf der einen Seite ist da die Wut ihrer Kinder, die sie möglichst zugewandt begleiten wollen. Auf der anderen Seite sind sie selbst – mit all ihren (unterdrückten) Gefühlen und zurückgestellten Bedürfnissen. Wir wollen uns in diesem Text der Wut von drei Seiten annähern:

1. Wo kommt dieses heftige Gefühl eigentlich her?
2. Warum werden wir so oft selbst wütend, wenn unser Kind einen Wutausbruch hat?
3. Wie kann ich einen Wutausbruch meines Kindes gelassener begleiten?

Vielleicht kann dich dieser Text bereits darin unterstützen, dich in solchen Situationen weniger hilflos zu fühlen.

Aggressionen und Wut sind gesellschaftlich nicht anerkannt

Irgendwie haben wir doch alle mehr oder weniger diese Bilder im Kopf von der perfekten, harmonischen Familie. Alle lachen miteinander, sind entspannt und fröhlich. Bei uns gibt es diese Momente durchaus. Allerdings ist Familie auch der Ort, an dem viele ganz unterschiedliche Charaktere und Bedürfnisse aufeinanderprallen.  

Und Familie ist der Ort, an dem Kinder lernen, ihre teils noch sehr überschäumenden Gefühle in gesellschaftlich akzeptierte Bahnen zu lenken. Denn Gefühle wie Wut und Aggression sind unerwünschte Verhaltensweisen in der Öffentlichkeit. Das erleben die allermeisten Kinder spätestens in Kindergarten und Schule. Dort „schaffen“ sie es in aller Regel auch, sich anzupassen – oder anders gesagt, die Gefühle für eine Weile zu unterdrücken und ihre Bedürfnisse aufzuschieben.

Oft brechen Kinder dann regelrecht gefühlsmäßig ein, wenn sie aus Kita oder Schule nach Hause kommen. Ich weiß noch, wie meine Dreijährige mit rotem Gesicht, springenden Tränen und geballten Fäusten vor mir stand, schreiend und völlig außer sich, als ich sie aus dem Kindergarten abholte. Die Erzieherin versicherte mir, dass unsere Kleine den ganzen Tag über der absolute Sonnenschein war. Sie nickte mir aufmunternd zu und sagte: „Das ist das schönste Kompliment, was Ihr Kind Ihnen machen kann. Bei Ihnen kann sie alles rauslassen, was sich über den Tag angestaut hat.“ Puh. Das ist jetzt fast sieben Jahre her, und ich begreife immer mehr, was die Erzieherin mir damals damit sagen wollte.

Wir sind der sichere Hafen für unsere Kinder

Bei uns können sie alle Gefühle rauslassen, ohne sich Sorgen um die Folgen für die Beziehung machen zu müssen. Vielleicht protestierst du jetzt, weil du dir dieses harmonische Familienleben so sehr wünschst. Vielleicht möchtest du gerne immer friedvoll mit deinen Kindern sein, und wünschst dir im Umkehrschluss insgeheim, dass auch sie friedliche und zufriedene kleine Wesen sind. Das Ideal einer harmonischen Eltern-Kind-Beziehung kann zu ganz schön viel Druck im Kessel führen.

Vielleicht neigst du auch dazu, deine eigenen Gefühle sehr lange zu deckeln, bis sie dann irgendwann völlig unkontrolliert aus dir herausplatzen. Wie bei einem Schnellkochtopf, bei dem du versäumt hast, zwischendrin ein wenig Dampf abzulassen. Irgendwann explodiert er. Solche unkontrollierten Ausbrüche sind es, die deinem Kind Angst machen und die zu Lasten der Beziehung gehen können.

„Wenn wir eine Welt ohne Krieg haben wollen, müssen wir dafür sorgen, dass unsere Kinder spätestens bis 15, 16 gelernt haben mit ihren Aggressionen umzugehen.“  

— Jesper Juul

Ein authentischer Ausdruck dessen, wie es dir gerade geht (bevor der Kessel explodiert), ist hingegen für Kinder absolut wichtig. Nur so lernen sie an deinem Vorbild, dass es eben unterschiedliche Gefühle gibt. Wir diesen jedoch nie völlig ausgeliefert sind, sondern wir lernen können, diese selbst zu regulieren.

Jesper Juul hat ein ganzes Buch zum Thema Aggression geschrieben. Die gesamte emotionale Musik und Poesie, die jedem Menschen innewohne, müsse zum Klingen gebracht werden – einschließlich Gereiztheit, Frustration, Wut, Zorn und sogar Hass. Nur so könne man reif und erwachsen werden, schreibt Juul. Es brauche eine Kindheit lang, um zu lernen, aggressive Gefühle zu integrieren und konstruktiv und kreativ zu nutzen. Das funktioniere nur durch Dialoge, Interesse, Neugier und immer wieder persönliches Feedback. Also eine ehrliche Rückmeldung darüber, wie die Handlungen meines Kindes bei mir ankommen.

Wut ist ein emotionaler Alarmzustand

Wenn die Wut einmal aus uns herausbricht, sind die Handlungsimpulse kaum noch zu stoppen. Die Energie sucht sich dann ihren Weg. Sei es durch eine geknallte Tür, ein Stampfen auf den Boden, Schreien, Werfen von Gegenständen oder sogar, indem wir auf einen anderen Menschen losgehen.

Nora Imlau (Fachautorin für Familienthemen) beschreibt die Wut bei Kindern als einen „Zustand panischer Überforderung“ und einen „emotionalen Alarmzustand“. Die Kinder seien dann mit unseren Worten nicht mehr erreichbar. Das habe sogar biologische Gründe: Im Innenohr zögen sich Muskeln zusammen, was dazu führe, dass die menschliche Stimme kaum noch hörbar sei. Das Kind anzuschreien (oder auch nur laut anzusprechen) ist daher absolut nicht hilfreich.

Ärgerlicherweise haben die allermeisten von uns selbst als Kinder keinen gesunden Umgang mit Wut gelernt. Daher sind wir oft in dem Moment, wo unser Kind so unter Stress steht, selbst völlig gestresst. Vielleicht schlucken wir diese Gefühle runter, beißen die Zähne zusammen und sprechen weiter betont freundlich zu unserem Kind. Wer über längere Zeit seine eigenen Gefühlen dermaßen unter den Teppich kehrt, kann dadurch krank werden.  

Oder aber wir werden selbst wütend. Unser eigenes Wüten ist dann genauso ein Hilferuf wie der unseres Kindes. Sicher kennst du Themen, bei denen du wütend auf dein wütendes Kind wirst. In anderen Situationen kannst du die Wut des Kindes hingegen viel souveräner begleiten. Woran liegt das?

Warum es sich lohnt, dich mit deiner eigenen Wut zu beschäftigen

Vermutlich hast du das schon mal gehört: Wenn wir gestresst sind, dann setzt unser lösungsorientierter und flexibler Teil des Gehirns aus. Es übernehmen Teile des Hirns, die einem Autopiloten gleichen. Wir erinnern plötzlich nur noch die breiten Autobahnen, die sich seit unserer frühesten Kindheit als Muster eingefahren haben, und alle anderen Bereiche, zum Beispiel die mühsam erarbeiteten neuen Verhaltensweisen unserem Kind gegenüber, sind wie gelöscht.

Möchtest du also deinem Kind in seiner Wut den Rettungsring zuwerfen können, dann ist es wichtig, dass du zunächst dich selbst rettest. Oder anders gesagt: Nur wenn du selbst ruhig bleibst, wirst du überhaupt in der Lage sein, dein Kind in seiner Wut zu begleiten. Ansonsten stehen sich nämlich zwei wütende Kleinkinder gegenüber und die Wutspirale schraubt sich immer weiter hoch. Ich weiß leider, wovon ich spreche. Zum Glück weiß ich gleichzeitig auch, wie ich in den meisten Fällen vorher aus der Situation aussteigen kann. Die Notfallstrategie kannst du hier nachlesen.  

Schaue dir gerne also mal deine eigene Wut genauer an. Wie fühlt sie sich an? Wodurch wird sie ausgelöst? Was sind deine Trigger? Und was könnte vielleicht an Gefühlen darunter stecken? Oft sind es Trauer oder Angst, vielleicht auch Scham oder Schuld. Gibt es (eventuell auch rückblickend) bestimmte körperliche Anzeichen dafür, dass die Wut im Anmarsch ist? Neigst du generell dazu, Gefühle und Bedürfnisse aufzuschieben? Sind deine wichtigsten Bedürfnisse ausreichend genährt?

Je genauer du all‘ diese Dinge ergründest, desto eher bist du in der Lage, dir selbst in herausfordernden Situationen einfühlsam zu begegnen. Also dich selbst zu fragen: Was brauche ich jetzt in diesem Moment? Ein Glas Wasser? Ein paar tiefe Atemzüge? Ein Stück Notfall-Schokolade? Einen Anruf bei einem Menschen, der mir empathisch zuhören kann? Was brauche ich, damit ich mich im zweiten Schritt gut um mein wütendes Gegenüber kümmern kann?

Wie kann ich die Wut meines Kindes begleiten?

Gewöhne dir also gerne einen kleinen „Quick-Check“ an, ehe du dich deinem Kind zuwendest. Bei dir ist alles okay? Du fühlst dich gut gewappnet? Dann kannst du jetzt voll und ganz bei deinem Kind sein und ihm verständnisvoll in seiner Not begegnen.

Option 1: Das Kind spiegeln

Welche Optionen hast du also, wenn dein Kind heftig wütet? Worte kommen wie gesagt in den allermeisten Fällen jetzt nicht mehr an. Was bleibt? Vor allem nonverbale Kommunikation: Mimik, Gestik, ein freundlicher Tonfall. Falls du dich dazu entscheidest, dein Kind zu spiegeln, dann verwende allenfalls kurze, prägnante Sätze. Spiele das nach, was dein Kind tut (mit dem Fuß aufstampfen, die Stirn runzeln, die Lippen aufeinanderpressen) und sage, was es sagt: „Du sagst: Nein, nein, nein. Du willst hierbleiben.“

Meines Erachtens ist „richtiges“ Spiegeln eine echte Kunst – die auch sehr schnell schief gehen kann. Manche Kinder steigern sich so erst recht in ihr Gefühl hinein. Und je nach Tonfall oder eigener (unterschwelliger) Ungeduld und Genervtheit, geht das Spiegeln komplett nach hinten los. Viele Tipps zum Spiegeln kannst du bei Katja Seide nachlesen.

Die Autorin von „Das gewünschteste Wunschkind treibt mich in den Wahnsinn“ schreibt als Fazit: „Ich respektiere seine Gefühle, denn sie haben immer einen für das Kind guten Grund, und ich zeige meinem Kind durch das Spiegeln, dass ich verstanden habe, wie es sich fühlt und das es okay ist, sich so zu fühlen. Das bedeutet nicht, dass ich ihm keine Grenzen setze. Es bedeutet nur, dass ich ihm sage, dass alle Gefühle richtig und wichtig sind und dass ich ein offenes Ohr für seine Emotionen habe. Im Übrigen ist das keine radikal neue Idee, sondern einfach eine Abwandlung von aktivem Zuhören und Gewaltfreier Kommunikation auf dem Niveau von Kleinkindern.“

Option 2: Sei einfach präsent

Mir hat geholfen, was Nora Imlau zu gefühlsstarken Kindern schreibt. Zusammengefasst geht es bei ihrer Methode darum, ein stabiler und verlässlicher Gegenpol für das Kind zu sein. Bleibe ich (aufrichtig!) meinem Kind gegenüber freundlich und zugewandt, kann ich so wieder eine Verbindung zwischen uns herstellen. Dafür sorgen die Spiegelneuronen: Ein ruhiges Gegenüber färbt sozusagen auf das Kind ab, dass dadurch einen „Rettungsring im Strudel der Emotionen“ (Imlau) zugeworfen bekommt.

Erst mit der Zeit lernt dein Kind, sich selbst zu regulieren. Und das lernt es vor allem in ruhigen und entspannten Momenten. Dann kannst du nochmal auf die Wutsituation zurückkommen. Wichtig: In der akuten Stresssituation ist dein Kind NICHT lernfähig. Alles Reden und Schimpfen verpufft dann und setzt dein Kind eher noch mehr unter Stress.

„In diesen akuten Wutmomenten besteht unsere Aufgabe einzig und allein darin, andere und unser Kind selbst zu schützen.“

— Nora Imlau

Option 3: Schütze dich, andere und das Kind selbst

Je nach Temperament kann es hoch hergehen, wenn ein Kind wütet. Ich kenne jedenfalls von meinen Kindern das volle Programm: Sachen durch die Gegend oder auf andere Personen werfen, Fausthiebe, Treten, Beißen, Dinge zerschlagen, Türen mit voller Wucht schmeißen… In solchen Fällen geht es zuerst einmal darum, das Kind, die (Wert-)Gegenstände, mich selbst und andere (zum Beispiel Geschwisterkinder oder Haustiere) zu schützen.

Überlege dir vielleicht mal in Ruhe, also außerhalb der Stresssituation, wo da deine persönlichen Grenzen liegen. Meine jüngeren Kinder trage ich entschlossen aber ohne eigene Wut aus dem Raum und setze mich dort mit dem Rücken vor die Türe, so dass das Kind nicht wieder raus zu den anderen kann. Ich spreche währenddessen mit dem Kind und sage ihm, dass es mir darum geht, dass keiner verletzt wird und unsere Sachen heil bleiben. Ich mache deutlich: „Ich bin da. Ich gehe nicht weg.“ Dann versuche ich, Kontakt aufzubauen. Ich sitze da, schaue mein Kind an. Meist gibt es dann diesen einen Moment, in dem ich meine Arme ausbreite und das Kind sich in diese hineinfallen lässt. Und langsam ebbt der Wutanfall ab.

Mein älteres Kind hat es schon gelernt, dass es ihm guttut, selbst die Situation zu verlassen. Ich lasse dann etwas Zeit verstreichen, ehe ich frage, ob es mit mir reden mag. Kommt es von alleine zu mir, dann empfange ich es mit offenen Armen. Bin ich selbst noch zu verletzt, dann sage ich das allerdings auch.

Schlägt mein Kind mit Worten oder Fäusten um sich, dann mache ich meine eigenen Grenzen deutlich. Zum Beispiel so: „Mann, es reicht! Du bist sauer, ich merke das! Aber deine Worte verletzen mich.“ Jesper Juul formuliert das in seinem Buch über Aggression ganz ähnlich: „Mir gefällt es nicht, wenn du mich schlägst und ich will, dass du damit aufhörst! Trotzdem würde ich gerne wissen, womit ich dich so wütend gemacht habe?“ So fühle sich das Kind trotz des Konflikts wertgeschätzt und wertvoll.

Fotos: Sarah Richter/Pixabay; Lucarelli; Verlagsgruppe Random House

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Birthe

Mama von Zwillingen und einer Großen, Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation und Journalistin, lernt mit Begeisterung neue Dinge. Sie schwankt zwischen Freude und Verzweiflung über ihre lebendige Familie.

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