Skip to main content

Wie erleben unsere Kinder eigentlich Veränderungen? Kommt darauf an. Ein wichtiger Faktor ist, wie die engsten Bezugspersonen damit umgehen. In diesem Text liest du, was du ganz praktisch tun kannst, um deinem Kind in Zeiten des Umbruchs Sicherheit und Halt zu geben. Und ganz am Ende haben wir noch einen kleinen Spickzettel für dich zusammengestellt.

Jede Familie ist ein in sich sehr fein aufeinander abgestimmtes System. Ändert sich im Leben des einen Familienmitgliedes etwas, betrifft das das gesamte Gefüge. Ein Kind kommt in die Schule. Mama fängt wieder an zu arbeiten. Ein Geschwisterkind wird geboren. Papa verliert den Job. Die Eltern trennen sich. Die Kita schließt wegen Corona. Alle Menschen laufen mit Mundschutz herum.

Das Familiengefüge strebt nach Balance

So unterschiedlich die aufgezählten Ereignisse und Umbrüche auch sind, so haben sie doch eins gemeinsam: Das bisher Gekannte und damit Übersichtliche und Durchschaubare ist nicht mehr da, das Neue ist noch nicht richtig sichtbar. Eine chaotische Phase des Übergangs beginnt, in der alle zunächst wieder ihren Platz suchen. Denn der menschliche Organismus strebt nach einem ausgeglichenen, entspannten Zustand, also nach Balance. So wie auch das gesamte Familiengefüge nach Balance strebt.

Kinder leben im Hier und Jetzt

Ein riesiger Vorteil, den Kinder im Umgang mit Veränderungen in Vergleich zu uns Erwachsenen haben: Sie leben im Hier und Jetzt. Sie können die zeitliche Dimension noch nicht so genau einschätzen. Ob nun etwas eine Woche oder einen Monat dauert, ist für sie oft einerlei. Die Vergangenheit erinnern sie bis zu einem gewissen Alter nur sehr kurzfristig, und die Zukunft ist ein eher abstrakter Begriff. Oder vereinfacht gesagt: Sie neigen viel weniger dazu, sich irgendwelche Sorgen zu machen. Das ist eher so ein Erwachsenen-Ding.

Kinder sind Experten für Veränderungen

Und noch ein Vorteil: Kinder sind wahre Experten, wenn es um Veränderungen geht. Denn letztlich ist die Kindheit doch eine einzige Aneinanderreihung von Veränderungen. Mit jeder Entwicklungsphase erwirbt das Kind neue Fähigkeiten, erweitert seinen Radius, löst sich mehr von seinen Eltern und bildet so immer mehr seine eigenständige Persönlichkeit heraus. Es passt sich immer wieder an die aktuelle Situation an.

Kindern orientieren sich an ihren Vorbildern

Jetzt könnte ich den Text also eigentlich beenden. Oder? Nicht ganz. Denn: Wie souverän ein Kind mit Veränderungen umgehen kann, liegt zu einem großen Teil auch daran, wie stabil die Beziehung zu seinen wichtigsten Bezugspersonen ist. Und wie diese selbst mit der Veränderung umgehen. Jeder, der schon einmal versucht hat, etwas vor seinen Kindern zu verheimlichen, kennt das: Die Antennen sind so unglaublich fein, dass Kinder sofort bemerken, wenn ihre Eltern verunsichert und destabilisiert sind. Benehmen sich die Kinder auf einmal „merkwürdig“, dann lohnt es sich, erstmal bei dir selbst zu schauen. Vielleicht brauchst du für dich zunächst Klarheit, wie es dir mit der Situation geht? Eine Möglichkeit, die die Gewaltfreie Kommunikation uns dazu anbietet, ist die Selbstempathie.

Die vier psychischen Grundbedürfnisse sind entscheidend für die Widerstandskraft

Wie gut dein Kind mit Veränderungen umgeht, hängt zudem daran, wie stabil seine Psyche generell ist. Vielleicht hast du schon einmal von den vier psychischen Grundbedürfnissen (nach Grawe und Epstein) gehört:

  1. das Bedürfnis nach Bindung
  2. das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle
  3. das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung
  4. das Bedürfnis nach Selbstwerteerhöhung und Schutz des Selbstwertes

Je mehr diese vier im Gleichgewicht sind, desto psychisch belastbarer und widerstandsfähiger (resilienter) ist dieser Mensch. Desto besser geht er also auch mit Umbruchsituationen in seinem Leben um. Falls du dich für Resilienz interessierst, dann schau dir unbedingt auch mein Interview mit Corinna Leibig dazu an. Ich stelle hier zunächst die vier Grundbedürfnisse nacheinander vor und nenne Rituale, die diese nähren können. Eine Erläuterung zu den Ritualen findest du am Ende des Beitrags.

Das erste psychische Grundbedürfnis heißt Bindung

Was genau heißt das, eine stabile Beziehung aufzubauen oder sicher gebunden zu sein? Das Entscheidende für mich ist, dass ein Kind immer und immer wieder die Erfahrung macht, dass seine Eltern (oder andere Bindungspersonen) seine Bedürfnisse und Gefühle sehen und verlässlich beantworten. Also ganz konkret etwa, dass sich dein Kind bei Angst oder Schmerz darauf verlassen kann, dass du es begleitest. So erfährt es Sicherheit und Empathie. Es lernt: Was immer auch passiert, ich kann mir gewiss sein, dass Mama oder Papa für mich da sind. Gleichzeitig unterstützen sie mich auch darin, in einem geschützten und Orientierung bietenden Rahmen, meine eigenen Erfahrungen zu machen. Das sind die viel zitierten Wurzeln und Flügel, die wir unseren Kindern geben wollen.

Jedes Gefühl darf sein

Wichtig ist auch, dass dabei alle Gefühle die gleiche Berechtigung haben. Egal ob Trauer oder Wut, Freude oder Spaß – alles darf sein. Es wird so viel über den Kooperationswillen von Kindern geschrieben. Ebenso wichtig ist an dieser Stelle die Kooperation der Eltern: Versuchst du hinter dem Verhalten deines Kindes das „Schönste und Beste“ zu sehen, was deinem Kind gerade zur Verfügung steht (Marshall Rosenberg)? Versuchst du, hinter das vermeintlich „nicht akzeptable Benehmen“ zu schauen, und deinem Kind Handlungsalternativen anzubieten? Wie schon geschrieben: Jedes Gefühl darf sein – gleichzeitig ist es dein Job, deinem Kind klare Orientierungshilfen zu geben, wenn es selbst noch keine (für dich akzeptable) Strategie hat, damit umzugehen.

DIESE RITUALE NÄHREN DAS BINDUNGSBEDÜRFNIS: Körperkontakt, Fotos anschauen, Gute-Nacht-Geschichte, Feiern und Bedauern, Kuchen backen, Familienprojekt, Sprechendes Kuscheltier

Das zweite psychische Grundbedürfnis ist die Balance von Kontrolle und Orientierung

Niemand erlebt sich selbst gerne als ohnmächtig oder hilflos. Auch Kinder möchten so viel es geht mitgestalten und „kontrollieren“. Nicht umsonst geht es bei Spielen von Kindern untereinander oft darum, wer denn jetzt „der Bestimmer“ ist. Und wenn du ein Kleinkind zu Hause hast (oder mal hattest), kennst du den Ruf „ALLEINE MACHEN!!!“ sicher nur allzu gut. Das Bedürfnis nach Kontrolle beschreibt genau dieses Streben nach Handlungsspielraum, Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten. In der Gewaltfreien Kommunikation nennen wir das auch das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit.

Der Erwachsene setzt den Rahmen, das Kind darf mitentscheiden

Der Gegenspieler des Bedürfnisses nach Kontrolle ist das Bedürfnis nach Orientierung. Mit anderen Worten: Der Erwachsene sagt was gemacht wird (Orientierung), das Kind darf (mit-)entscheiden, wie es gemacht wird (Kontrolle/Selbstwirksamkeit). So gibt es einen klaren Rahmen, innerhalb dessen das Kind sich bewegen kann. Nachvollziehbare und für das Kind sicher einschätzbare Handlungen des Erwachsenen bei gleichzeitiger Beteiligung des Kindes. Wie stark und in welcher Form du dein Kind beteiligst, hängt von seinem Entwicklungsstand ab. Was kann es schon? Womit wäre es vielleicht noch überfordert? Diese Linie könnt ihr immer wieder gemeinsam ausloten.

DIESE RITUALE NÄHREN DAS BEDÜRFNIS NACH KONTROLLE UND ORIENTIERUNG: Familienprojekt, Gemeinsam den Tag planen, Feiern und Bedauern, Rollenspiele spielen

Beim dritten psychischen Grundbedürfnis geht es um den Selbstwert

Menschen begeben sich bevorzugt in Situationen, in denen sie sich als kompetent erleben können. Das hilft ihnen, sich selbst als positiv und wertvoll wahrzunehmen und so ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln. Manche Menschen erfüllen sich dieses Bedürfnis, indem sie sich von anderen Menschen eine positive Bewertung „abholen“. In der Gewaltfreien Kommunikation versuchen wir, das Handeln unserer Kinder wert- und urteilsfrei zu beobachten (die Kamera, die nur aufnimmt, was gerade zu sehen und zu hören ist). Unser Mittel der Wahl ist in diesem Fall die Wertschätzung. Hier sagen wir dem Kind, inwiefern sein Handeln dazu beigetragen hat, unser Leben schöner zu machen, also inwiefern es zu unserer eigenen Bedürfniserfüllung beigetragen hat.

Manche Kinder werten sich oder andere ab

Eine der Grundannahmen der GFK ist es, dass Menschen gerne dazu beitragen, dass das Leben der Menschen um sie herum schöner wird. Das gilt in ganz besonderem Maße für Kinder. Sie wollen und müssen sogar (um zu überleben) mit den Erwachsenen kooperieren. Dein Kind wird sich selbst als wertvoll erleben, wenn du es in seinem Bemühen und in seiner Einzigartigkeit siehst. Im Umkehrschluss versuchen Kinder, die wenig Wertschätzung erfahren, mit der Zeit Vermeidungsstrategien zu entwickeln. Das tun sie, um ihren Selbstwert zu schützen. Sie versuchen dann häufiger, nicht negativ aufzufallen. Wollen alles richtig machen. Ziehen sich manchmal auch innerlich zurück. Manche Kinder werten auch andere ab, um sich selbst in ihrem Selbstwert zu erhöhen.

DIESE RITUALE NÄHREN DAS SELBSTWERTGEFÜHL: Gefühlsuhr, Feiern und Bedauern, Familienprojekt, Fotos anschauen, Körperkontakt, Codewort

Sind meine Bedürfnis erfüllt oder unerfüllt?

Nahezu selbsterklärend ist das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung. Menschen versuchen, als angenehm empfundene Gefühle (wie Freude, Liebe, Zufriedenheit) zu erreichen und „negative“ (wie Angst, Hilflosigkeit, Scham und Wut) zu vermeiden. Ich setze „negativ“ bewusst ins Anführungszeichen, da Gefühle in der Gewaltfreien Kommunikation nicht gewertet werden. Wenn es überhaupt eine Unterteilung gibt, dann in Gefühle, wenn Bedürfnisse sich erfüllen und Gefühle, wenn Bedürfnisse unerfüllt sind. Ich stelle bei meinen eigenen Kindern immer wieder fest, wie viel freudiger und schneller sie bereit sind, zur Erfüllung meiner Bedürfnisse beizutragen, wenn sie selbst „satt“ sind, also ich zuvor dazu beigetragen habe, dass sich viele ihrer Bedürfnisse erfüllt haben.

DIESE RITUALE SENSIBILISIEREN FÜR LUSTGEWINN UND UNLUSTVERMEIDUNG: Feiern und Bedauern, Gefühlsuhr, Familienprojekt, Kuchen backen

Finde Rituale, die zu dir und deiner Familie passen

Ich hoffe, du konntest jetzt einen Eindruck davon gewinnen, wie Rituale dir und deinem Kind auch in unruhigen Zeiten ein Anker sein können. Sie geben euch einen gemeinsamen Rahmen und stärken die Kompetenz deines Kindes (und der ganzen Familie), mit Veränderungen umzugehen. Zudem sind viele der vorgestellten Bedürfnisse sehr gut dazu geeignet, über Gefühle ins Gespräch zu kommen und so nach und nach den Gefühlswortschatz deines Kindes aufzubauen. Sie schaffen Verbindung und Nähe und stärken den Familienzusammenhalt. Dabei ist es im Grunde völlig egal, wie eure Rituale aussehen. Vielleicht fällt dir und deinen Lieben ja auch etwas völlig Verrücktes, Einzigartiges ein. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Übrigens kann Humor auch eine sehr hilfreiche und entlastende Strategie in Krisenzeiten sein. Es heißt sicher nicht umsonst: Lachen ist gesund.

10 Rituale für Familien

#1 Gefühlsuhr – Schon das gemeinsame Planen und Gestalten kann viel Verbindung schaffen. Sucht euch am besten einen festen Zeitpunkt am Tag, an dem ihr mithilfe der Uhr die Gefühlslage aller Familienmitglieder checkt.

#2 Feiern und Bedauern – Jeder ist dazu eingeladen, eine Sache zu nennen, bei der sich ein Bedürfnis erfüllt hat, und eine, bei der ein Bedürfnis unerfüllt geblieben ist. Wir machen das gerne abends vorm Schlafengehen.

#3 Sprechendes Stofftier – Gerade bei starken Gefühlen fällt es Kindern manchmal schwer, direkt darüber zu reden. Ihr könnt ein sprechendes Stofftier (zum Beispiel eine Giraffe 😊) einziehen lassen, die als „Dolmetscher“ fungiert.

#4 Fotos anschauen – So könnt ihr ins Gespräch kommen und euch zum Beispiel gemeinsam an schöne Momente erinnern, die ihr miteinander verbracht habt.

#5 Gute-Nacht-Geschichte – Dieses Ritual darf bei uns nie fehlen, denn es ist Kuscheln und Abtauchen in fremde Welten zugleich.

#6 Körperkontakt – Kinder haben oft sehr unterschiedliche Vorlieben. Das eine kämpft und rauft lieber, das andere bevorzugt kuscheln, wieder andere lieben es, durchgekitzelt zu werden. Sehr beliebt bei uns: gemeinsame Kuschel-Hörspiel-Zeit.

#7 Kuchen backen – Hat sich bei uns als Sonntagsritual etabliert, und alle sind beteiligt. Wir überlegen zusammen, was wir backen und dann übernimmt jeder seine Aufgabe. Und wenn’s das Teigschlecken ist…

#8 Den Tag planen – Wie beim Morgenkreis in Kita und Schule sprechen wir morgens beim Frühstück darüber, was an Terminen geplant ist, welche Aufgaben anstehen und was jeder gerne erleben möchte. Eine Familienkonferenz im Mini-Format, dokumentiert am Familienboard.

#9 Familienprojekt – Ein Gemüsebeet anlegen, das Wohnzimmer streichen, eine Fotocollage basteln – ganz gleich was, Hauptsache alle haben Spaß daran und machen mit.

# 10 Codewort – Bei Verletzungen der Familienregeln (die ihr vorher gemeinsam aufgestellt habt), nennt ihr das geheime Familien-Codewort. Ist auch super für GFK-Übende als Erinnerung, wenn sie aus der Haltung fallen (z.B. beurteilen, fordern, verallgemeinern).

Und jetzt du:

Teile diesen Beitrag!
Birthe

Mama von Zwillingen und einer Großen, Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation und Journalistin, lernt mit Begeisterung neue Dinge. Sie schwankt zwischen Freude und Verzweiflung über ihre lebendige Familie.

Leave a Reply