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Friedvolle Elternschaft ist manchmal gar nicht so einfach. Im Alltag begegnen uns viele Situationen, in denen uns soziale Prägungen, Glaubenssätze oder andere Umstände regelrecht aus der gewaltfreien Haltung katapultieren. Wir haben uns sechs davon genauer angeschaut – und Ideen gesammelt, wie es leichter gehen könnte.

Geschwister können einfach über ALLES streiten

„Ich hatte das zuerst!“ – „Sie hat aber angefangen!“ – „Ich bin zuerst dran!“ – „Der darf nicht mitspielen!“. Aaaaaahhhhhh! Geschwister können einfach über ALLES streiten. Und dazu noch oft in einer nahezu ohrenbetäubenden Lautstärke. Studien zufolge streiten Kinder im Schnitt alle 20 Minuten. Himmel!

Ich gebe offen zu: Mein überwiegendes Gefühl in Bezug auf Geschwisterstreit ist Genervtheit. Ich würde gerne ab und an meine Ruhe genießen. Zudem bin ich als Erwachsene ja auch in der Verantwortung – also zum Beispiel für die körperliche Unversehrtheit der Kinder zu sorgen oder zu schauen, dass nichts kaputt geht (und wenn es meine Nerven sind).

Was helfen kann:

Zunächst einmal das Bewusstsein darüber, dass Geschwisterstreit etwas völlig natürliches (und auch wichtiges) ist. Die Familie ist sozusagen das Trainingscamp für das „echte Leben“ da draußen, und hier gilt es eben auch, Konflikte auszutragen. Weiterhin wichtig zu wissen: In den seltensten Fällen geht es wirklich um das eine Spielzeug oder die letzte Kartoffel beim Mittagessen. Sehr oft schwingt darin der Kampf um die elterliche Liebe und Aufmerksamkeit mit. Versuche also, hinter die Bedürfnisse zu schauen. Worum geht es den beiden Streithähnen (oder Streithennen) gerade wirklich? Oft hilft es schon zu zeigen, dass wir beide Seiten sehen und hören und die Bedürfnisse anerkennen.

Verschaffe dir in Streitsituationen zunächst einen Überblick: Ist jemand in Gefahr? Dann gilt: Handeln statt Reden! Keine akute Gefahr erkennbar? Dann schaue zunächst bei dir selbst: Reichen meine Ressourcen aus, um einen Geschwisterstreit zu begleiten? Oder ziehe ich mich lieber zurück? Frage deine Kinder gerne auch, ob sie sich bei der Klärung des Streits Unterstützung wünschen.

Ist der Konkurrenzkampf zwischen den Kindern sehr ausgeprägt, dann kannst du auch versuchen vorbeugend aktiv zu werden. Stelle sicher, dass jedes Kind exklusive Zeiten nur mit dir oder einer anderen Bezugsperson hat. Verzichte auf Vergleiche zwischen den Kindern. Und letztlich: Lebe ganz bewusst vor, dass Meinungsverschiedenheiten völlig normal sind, es jedoch auch friedlichere, konstruktivere Wege gibt, diese zu klären.

Wenn die Unterstützung fehlt, werden wir zur Meckermama

Kennst du das? Im Storchengang steigst du durchs Zimmer. Vorbei an liegengelassenem Spielzeug, einzelnen Socken, einem Stück Brötchen, Bonbonpapier… Und schwupps, kommt dieser Gedanke auf: „Immer bleibt alles an mir hängen!“ Und: „Warum kann hier eigentlich niemand mit anpacken?“

Ich meckere dann rum, verallgemeinere, werde unfair und so richtig eklig. Das stört die rumliegenden Gegenstände und den Dreck eher nicht. Und meine Kinder und mein Mann? Die ergreifen die Flucht und gehen mir aus dem Weg. Im Nachhinein plagen mich dann manchmal Schuldgefühle, weil ich mit meinem Gemecker so eine miese Stimmung verbreitet habe. Ich hätte ja auch vorher mal um Unterstützung bitten können. Oder?

Was helfen kann:

Sagt dir der Begriff „Mental Load“ etwas? Es geht dabei nicht nur um die reinen To-Dos, sondern auch um alle damit zusammenhängenden Planungs- und Koordinierungsprozesse. Wenn dich das Thema interessiert, kannst du hier mehr dazu erfahren. Solltest du feststellen, dass es da tatsächlich ein Ungleichgewicht bei euch in der Familie gibt, dann hilft nur eines: es ansprechen und ändern (oder es akzeptieren und damit leben).

Frage dich allerdings auch: Was kann ich wirklich von meinem Kind (oder Partner:in) erwarten? Kommuniziere ich meine Vorstellungen klar und deutlich? Vielleicht steckt aber auch ein Glaubenssatz dahinter wie etwa „Ich bin nur gut, wenn ich etwas leiste.“ Es lohnt sich definitiv, da mal genauer hinzuschauen.

Oder beleuchte den Gedanken „Immer bleibt alles an mir hängen“ doch mal genauer mit der Methode „The Work“ von Byron Katie. Stelle dir dazu vier Fragen: 1. Ist dieser Gedanke wahr? 2. Kannst du mit absoluter Sicherheit wissen, dass das wahr ist? 3. Was passiert, wenn du diesen Gedanken glaubst? 4. Was wärst du ohne diesen Gedanken?

Aggressivität ist für viele ein absolutes No-Go

Gerade wenn die Gewaltfreiheit dein Ideal ist, dann fällt es dir vielleicht schwer mitanzusehen wenn dein Kind aggressiv ist. Doch was heißt das eigentlich? Wo beginnt für dich aggressives Verhalten?

  • Wenn dein Kind „Kraftausdrücke“ nutzt?
  • Wenn dein Kind haut, beißt oder tritt?
  • Wenn dein Kind laut brüllt?

Schaue da doch gerne mal genauer hin und stelle dir eine einfache Frage: Was wäre mit dir als Kind passiert, wenn du dich so verhalten hättest? Tobt in diesen Momenten vielleicht dein inneres Kind mit?

Was helfen kann:

Zunächst einmal das Wissen: Aggressivität ist nicht per se schlecht. Kindern fehlen oft noch die Alternativen, ihre Bedürfnisse klar zu machen. Oder aber sie sind noch nicht in der Lage, ihre Gefühle eigenständig zu regulieren und werden von diesen regelrecht „überschwemmt“. Mit der Zeit lernen sie in aller Regel, ihre Impulse insofern zu „kontrollieren“, dass sie damit keinem anderen Schaden zufügen.

Was sie dafür brauchen: einen klaren und zugleich zugewandten Erwachsenen. Viel wichtiger als Worte ist in diesen Momenten deine Präsenz.

Wie das konkret aussieht? Schütze was es zu schützen gilt (ob den Kopf des Geschwisterchens oder die teure Vase) und sage dir selbst: Das ist gerade ein starkes Gefühl, doch auch dieses Gefühl wird vorbeigehen. Wenn dein Kind es zulässt, berühre es sanft. Falls nicht, setze dich in einiger Entfernung hin und warte ab, bis es Nähe zulassen kann.

Erst wenn der große Gefühlssturm vorbei ist, könnt ihr über Handlungsalternativen sprechen oder gemeinsam überlegen, was die starken Gefühle ausgelöst haben könnte.

In der Partnerschaft wünschen wir uns Einigkeit

Du hast für dich selbst die Gewaltfreie Kommunikation als wertvoll kennengelernt und bemühst dich um ein friedvolles Familienleben. Aber dein Partner oder deine Partnerin „zieht nicht mit“. Fällt dir vielleicht sogar in den Rücken.

Typische Reaktion: Wir sind dann plötzlich selbst nicht mehr gewaltfrei und friedvoll und überziehen unser Gegenüber mit einem Haufen Urteile und Beschimpfungen. Warum? Weil wir unser Kind schützen wollen? Weil wir „Recht“ haben wollen? Weil wir uns eigentlich Verbindung wünschen?

Was helfen kann:

Hast du sehr stark den Gedanken, Eltern sollten eine „geschlossene Front“ bilden? Zahlreiche namhafte Expert:innen (unter anderem Thomas Gordon, Jesper Juul) halten das für unnötig. Eltern müssen nicht immer einer Meinung sein. Unterschiedliche Erziehungsstile schaden Kindern per se zunächst nicht.

Aber: Es lohnt sich definitiv, über gemeinsame Werte zu sprechen. Was ist uns als Familie wichtig? Wie wollen wir miteinander umgehen? Wie füllen wir diese Werte mit Leben? Das beugt in der Tat Konflikten vor und schafft zudem Nähe.

Außerdem schafft es die nötige Klarheit – ein wichtiges Bedürfnis von Kindern – und beugt Loyalitätskonflikten vor. Deswegen sollte klar sein: Vor den Kindern schlecht über den anderen Partner oder die Partnerin zu reden ist ein absolutes No-Go! Sollte es ernsthafte und tieferliegende Differenzen geben, dann vertagt das Thema und besprecht es in Ruhe – wenn die Kinder im Bett sind.

Bedingungslose Annahme ist oft gar nicht so leicht

Seien wir mal ehrlich: Es gibt Verhaltensweisen unserer Kinder die uns peinlich sind.

  • Wenn sie fremden Leuten die Zunge rausstrecken.
  • Wenn sie im Restaurant mit den Fingern essen.
  • Wenn sie sich im Supermarkt auf den Boden werfen.
  • Wenn sie der Tante sagen, dass sie ganz schön dick ist.
  • Wenn sie… was ist dir peinlich oder unangenehm?

Denn tief in unserem Herzen wollen wir ja schon gerne die „perfekten Eltern“ sein – und werden wir da dann nicht eben auch am Verhalten unserer Kinder bemessen?

Gerade bei Eltern, die ihr Kind bedürfnisorientiert begleiten, spüre ich oft einen besonders starken Druck, wenn sie in der Öffentlichkeit unterwegs sind. Denn sie wollen ja zeigen: „Seht her, auch ganz ohne Zwang und Drohen wird ein anständiger Mensch aus unserem Kind!“ Wird es auch! Nur vielleicht nicht ganz nach den Vorstellungen eines jeden Menschens da draußen…

Was helfen kann:

Schau doch mal dahinter, warum du eine Verhaltensweise deines Kindes schlecht annehmen kannst. Was genau triggert dich daran? Triggert dich überhaupt etwas, oder ist es eher ein unpersönliches „man tut das nicht“?

Vielleicht hilft es dir auch zu verstehen, warum dein Kind tut was es tut? Ist „Anecken“ vielleicht eine bewusste Strategie, um deine Aufmerksamkeit zu bekommen? Oder braucht dein Kind in diesem Moment mehr Orientierung und Halt, ist vielleicht überfordert? Versuche doch gerne mal mithilfe unserer Bedürfnisschatzkarte herauszufinden, was da los sein könnte.

Und schließlich: Das beste „Gegenmittel“ bei Schamgefühlen ist immer noch Offenheit. Ein Beispiel: Dir ist es furchtbar peinlich, weil dein Kind schon seit fünf Minuten ununterbrochen auf einen wildfremden Mann einredet? Dann sprich‘ es an: „Ich sorge mich, ob es Ihnen wohl unangenehm sein könnte, dass meine Tochter ihnen all das erzählt… Wie ist das für Sie?“

Und manchmal wünschen wir uns einfach „gehorsame“ Kinder…

Manchmal mag ich einfach nicht alles diskutieren und erklären. Ich wünsche mir Leichtigkeit und denke hin und wieder sogar: „Ach sch… doch auf die Gewaltfreie Kommunikation!“ Kennst du das?

Schielst du dann vielleicht sogar auch mal auf „gehorsame“ Kinder, die einfach nur das tun, was ihre Eltern von ihnen wollen? Oder gruselt es dich eher vor dem Wort „Gehorsam“?

So oder so: Es gibt definitiv Situationen, in denen wir als Eltern unsere Macht einsetzen (müssen). Weil unsere Kinder Folgen ihres Verhaltens noch nicht absehen können. Weil direkte Gefahr in Verzug ist. Oder aber auch: Weil wir schlicht keine Ressourcen mehr zur Verfügung haben oder unser Bedürfnis ganz bewusst über das unseres Kindes stellen (müssen).

Was helfen kann:

Wie oben schon beschrieben: Der Wunsch nach „Gehorsam“ ist oft ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Erschöpfung. Wir können jetzt einfach nicht mehr anders und bräuchten so dringend die Kooperation unseres Kindes. Doch leider geht es dem Kind in solchen Situationen oft genauso: Es hat den Tag über bereits sehr viel kooperiert und sein Tank ist leer. In einer solchen Situation hilft im Grunde nur, das Dilemma zu erkennen und anzunehmen. In den Energiesparmodus zu schalten und so gut es geht durch die Situation durchzukommen.

Sollte jemand anderes in der Nähe sein, der übernehmen kann, dann ist das genau der richtige Zeitpunkt dafür! Denn vermutlich hast du deine Bedürfnisse schon so weit zurückgestellt und deine Grenzen so weit ausgedehnt, dass der Kessel kurz vorm Explodieren ist. Schau hier gerne auch mal, wie dir der „Giraffenschrei“ helfen kann.

Langfristig gesehen ist es sicher hilfreich, an deiner eigenen Klarheit zu arbeiten. Wo sind deine persönlichen Grenzen? Neigst du dazu, diese zu übergehen? Kommunizierst du klar, wenn du Pausen brauchst? Planst du diese für dich regelmäßig ein?

Wie löst du herausfordernde Situationen auf?

Erzähle es uns gerne in einem Kommentar!

Und sei dir bitte über eines gewiss: Perfekte Eltern, die zu jederzeit in 100 Prozent Übereinstimmung mit ihren Werten und Idealen handeln, die gibt es einfach nicht. Oder anders gesagt: „Perfekte Eltern haben noch keine Kinder.“

Birthe

Mama von Zwillingen und einer Großen, Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation und Journalistin, lernt mit Begeisterung neue Dinge. Sie schwankt zwischen Freude und Verzweiflung über ihre lebendige Familie.

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