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Umgang mit Gefühlen

Wie kann ich (wieder) Zugang zu meinen Gefühlen bekommen?

By 19. Mai 2021November 4th, 2022No Comments9 min read
Wie bei einer Zugbrücke: kommen wir wieder in Kontakt mit unseren Gefühlen, dann geht der Weg für uns weiter.

In der Gewaltfreien Kommunikation geht es darum, in Kontakt zu kommen mit dem, was in uns lebendig ist. Damit sind Gefühle und Bedürfnisse gemeint.

Lebendigkeit spüren – wozu?

Erstens können wir, wenn wir erkennen, was wir brauchen, gezielt nach passenden Lösungsstrategien suchen und diese für uns selbst umsetzen (Selbstfürsorge 1).

Zweitens können wir uns dann, wenn wir Klarheit gewonnen haben, kraftvoller für das einsetzen, was uns wichtig ist – wahlweise durch Abgrenzung oder durch beharrliches Einstehen für die Erfüllung unserer Bedürfnisse (aufrichtiger Selbstausdruck).

Drittens können wir dann auch (wieder) in Verbindung treten mit anderen Menschen. So können wir sie einladen, zu unserem Wohlbefinden beizutragen (Selbstfürsorge 2).

Oder – viertens – wir versetzen uns dadurch (wieder) in die Lage, unser Gegenüber empathisch zu begleiten (Fürsorge und Empathie).

In jedem Fall hilft uns die Verbindung zu uns selbst, (wieder) handlungsfähig zu werden und zu bleiben.

Was bedeutet „in Kontakt kommen mit dem, was in mir lebendig ist“?

In Kontakt kommen mit dem, was in uns lebendig ist – das bedeutet zu allererst: sich selbst spüren.

Stimmungen, Emotionen und Gefühle wahrnehmen. Und zwar unvoreingenommen, bewertungsfrei. Neugierig.

Das sagt sich so leicht – in Konflikten, herausfordernden Situationen, Schreckmomenten und anderen Notlagen sind wir schnell vollkommen von unseren Gefühlen abgeschnitten. Da funkt uns entweder unser Notfallprogramm dazwischen (Flucht, Angriff, Erstarren), oder unsere Vernunft. Dann denken wir mehr als dass wir fühlen. Schade. Denn unser Kopf erzählt uns nicht selten Geschichten, die gar nicht stimmen, und der Schatz, der in der Gefühlswelt verborgen liegt, wird nicht gehoben. Wir fahren auf den in uns angelegten Verhaltensautobahnen weiter, quasi auf Autopilot, und tun, was wir gewohnt sind zu tun. Meist reagieren wir gewaltvoll. Wahlweise gegen uns selbst (Schuld, Scham) oder gegen andere (Wut).
Selbsteinfühlung? Fehlanzeige.

Doch das lässt sich ändern! Mit ein wenig Übung wird es immer häufiger gelingen, den Abzweig von der Autobahn zu nehmen und auf den vielleicht noch recht holprigen Trampelpfad abzubiegen: nämlich mithilfe der Gefühle bedürfnisorientiert zu handeln.

Wie du (wieder) Zugang zu deinen Gefühlen bekommst liest du im heutigen Blogbeitrag.

Wenn du dich generell für erste Schritte mit der Gewaltfreien Kommunikation interessierst, empfehle ich dir hier meine 10 Tipps für schnelle Erfolge mit der Gewaltfreien Kommunikation.

Runter von der Autobahn und einen neuen Wege erkunden. Auch wenn dieser mal holprig ist.

Fünf Möglichkeiten, wieder ins Fühlen zu kommen

Um (wieder) Zugang zu den eigenen Gefühlen zu bekommen, gibt es zahlreiche unterschiedliche Herangehensweisen und Techniken. Ich möchte dir meine drei Favoriten vorstellen – allesamt alltagstauglich, praktisch und zu jeder Zeit umsetzbar.

Nachfolgende Ideen und Anregungen schlage ich vor auszuprobieren in jenen Momenten im Alltag, in denen es hoch her geht. Wenn wir merken, dass wir „außer uns sind“ oder in Begriff, uns selbst nicht mehr zu spüren. Das ist immer dann der Fall, wenn wir wütend werden, uns schämen, schimpfen, in negative Gedankenspiralen abdriften, vor uns hin maulen, uns am liebsten verkriechen wollen, oder wenn wir verstummen, resignieren, trotzig werden oder uns mit etwas Betäubendem ablenken.

1. Impuls von außen / Körperliche Stimulierung

Du kannst dich selbst wieder spüren, indem du deinem Körper etwas zu spüren gibst, das ungewohnt ist oder das den Körper anregt. Etwas Überraschendes, Unerwartetes vielleicht. Es darf durchaus auch etwas Unangenehmes sein – Brennessel anfassen zum Beispiel, oder barfuß durch einkaltes Wasser waten.

Ich unterteile die Impulse, die ich geben kann, in drei verschiedene Kategorien:

  • Stimulus auf der Haut oder im Körper: rauher Stoff, Wasser, Sand, barfuß laufen, Eiswürfel anfassen oder lutschen, Hände waschen, Zähne putzen, Glas kaltes Wasser trinken, Toilettengang…
  • Selbstberührung: Fußmassage, Hände reiben, Schultern kneten, sich eincremen, duschen …
  • Berührung anderer Lebewesen und durch andere Lebewesen: Umarmung, Raufen, Haustier streicheln, Sport mit Körperkontakt, Massage, Händeschütteln, Armdrücken, Tanzen, küssen…

Mein persönlicher Favorit (je nach Ort, an dem ich mich befinde):
– Haare bürsten/ Zopf binden
– Duschen
– Glas kaltes Wasser trinken

Wasser auf der Haut, am besten kalt. Das weckt unsere Geister und bringt uns ins Fühlen.

2. Achtsamkeitsübung

Achtsamkeit ist in meinen Augen etwas, das zwei Dinge braucht: Bewusstheit und Übung.
Wir handeln als „Achtsamkeitsanfänger“ nicht automatisch achtsam, sondern weil wir es wollen. Weil wir es uns bewusst vornehmen und, möglicherweise mit Unterstützung von außen (Merkzettel am Spiegel, Erinnerungswecker im Handy…), im Blick behalten. Achtsamkeit gelingt mit regelmäßiger Übung immer leichter und besser – bis sie irgendwann dann tatsächlich ein so fester Bestandteil unseres Alltagslebens ist, dass wir automatisch und unbewusst achtsam sind.

Für Ungeübte gibt es konkrete Möglichkeiten, in die Achtsamkeit einzusteigen:

Kurzfristig:

  • Immer: Aufmerksamkeit auf den Atem lenken, bewusst mehrere tiefe Atemzüge nehmen
  • Langsam bis zehn zählen
  • Rückwärts gehen mit geschlossenen Augen
  • Einen Körperscan machen
    • von oben nach unten / von unten nach oben, oder
    • nach Körperfunktionen (wie ist der Atem? Puls, Herzschlag? Muskelspannung? Körperhaltung? Mimik, Gestik? Bewegung von Körperteilen? Schmerz?) oder
    • nach Aufmerksamkeitsmagnet (Innehalten und spüren – wohin zieht es meine Aufmerksamkeit? Welches Körperteil „meldet“ sich, was spüre ich dort?)

Probiere beim Körperscan die verschiedenen Herangehensweisen aus und schau mal, was in welcher Situation am besten zu dir passt. (Erinnerung: Übung macht den Meister 😉 )

Längerfristig:

  • Meditationen mit Schwerpunkt Körperwahrnehmung
  • Übungen aus dem Tai Chi, Qi Gong und Yoga mit Schwerpunkt Körperwahrnehmung und Zentrierung
  • Innehalten im Alltag, um den Körperscan zu trainieren (dann ist er in Notlagen routiniert abrufbar)
  • Gefühlswortschatz aufbauen – Körperempfindungen (und Erinnerungen daran) mit Gefühlsbegriffen verknüpfen

Mein persönlicher Favorit: derzeit spüre ich sämtliche Irritationen im Außen vor allem in der Magengegend. Ich atme deshalb ganz bewusst und mit geschlossenen Augen, und ich lenke meinen tiefen, ruhiger werdenden Atem, gezielt in den Bereich der Brust und des Magens und bewirke ganz gezielt eine Weitung und Öffnung. Dabei nehme ich die Schultern zurück, recke und dehne mich, um im Brust-/Magenbereich Platz und Raum zu schaffen.

Beobachte dich selbst mal über einen längeren Zeitraum hinweg: wo in deinem Körper manifestieren sich Ärger, Trauer, Wut, Ohnmacht, Angst und Sorge? Gibt es eine Körperregion, in der sich vieles davon wiederfindet? Dann lohnt es sich, diesem Bereich die Aufmerksamkeit zu schenken, wenn du den Kontakt zu dir selbst verlierst.

Es muss nicht immer Yoga sein – Hinsetzen, Augen schließen und tief Atmen geht eigentlich immer!

3. Zeit gewinnen und sofort aktiv werden, um „brennende“ Bedürfnisse zu erfüllen

Ich persönlich bin schnell aus dem Kontakt mit mir selbst, wenn ich eine grundsätzlich angespannte Bedürfnislage habe. Wenn also ohnehin schon viele Bedürfnisse in Mangel sind oder über längeren Zeitraum hinweg nur unzureichend genährt werden. Da ich meine „Pappenheimer“ gut kenne – also ziemlich genau weiß, was meine TOP-Bedürfnisse sind und welche davon gerne und schnell in Mangel geraten, kann ich besonders gut wirksam werden, indem ich mich um diese mit hoher Priorität kümmere, und zwar SOFORT. Ins Handeln kommen ist hier das Stichwort – und zwar nicht mit irgendwas, sondern mit Bedürfniserfüllung.

In Notlagen – wenn ich mich selbst nicht mehr spüre – möchte ich Zeit gewinnen und gleichzeitig gut für mich sorgen. Ich wähle also eine Exit-Strategie, und dann tue ich etwas (am besten mit den Händen oder mit körperlicher Anstrengung), das mir sofort weiterhilft.

Mein persönlicher Favorit:
Zu Hause erst aufs Klo gehen und dann entweder Wäsche falten, Geschirr spülen, Tiere füttern oder den Müll rausbringen.
Unterwegs mit den Kindern: Versteck spielen oder schneller vorlaufen (so dass ich ein bisschen aus der Puste komme), Fangen spielen. Oder Krach machen (Stöcke aneinander schlagen, Musik im Auto laut aufdrehen und aufs Lenkrad trommeln…)

4. (Notfall-) Empathie-Partnerschaft

Ein*e Empathie-Partner*in ist eine Person, mit der ich eine Vereinbarung getroffen habe:
– ich kann sie jederzeit anrufen, wenn ich in Not bin und sie nimmt das Gespräch (nur dann) entgegen, wenn es ihr möglich ist (d.h. wenn sie Zeit und Ruhe hat und in der Verfassung, mir Einfühlung zu geben)
– Zur Gesprächseröffnung sagt mir die Person, wieviel Zeit sie dem Gespräch widmen kann
– Die Person hört zu und spricht nur dann, wenn sie dazu aufgefordert wird.
– Die Person hört absichtslos zu und schenkt reine Empathie (hält eigene Geschichten zurück und gibt keine Tipps oder Ratschläge). Hauptsächlich wiederholt sie, was sie von mir gehört hat; ggf. vermutet sie Gefühle und Bedürfnisse und bietet mir diese an. Dann kann ich hinspüren und schauen, ob davon etwas in mir anklingt. Wenn es sich aus dem Gespräch ergibt und ich dazu bereit bin, zeigt sie mir – in Form von Vorschlägen – mögliche Handlungsoptionen aus.

Das Besondere an dem Gespräch mit meiner Empathiepartnerin / meinem Empathiepartner ist (im Gegensatz zu einem Gespräch mit anderen Menschen ohne vorherige explizite Vereinbarung), dass ich mich darauf verlassen kann, dass die andere Person sich gut um sich selbst kümmert und für sich selbst die volle Verantwortung übernimmt. Ich kann ganz bei mir und meiner Notlage bleiben. Mein Gegenüber wird signalisieren, wenn die Konzentration nachlässt, die Aufmerksamkeit schwindet und/oder ein Zuhören aus welchen Gründen auch immer nicht mehr möglich ist.

Hier habe einmal erzählt von einem Fall, wo ich dank meiner Empathie-Partnerin Kontakt zu meinen Gefühlen bekam und wieder handlungsfähig wurde.

5. Der Herzschlüssel

Wer einen Herzschlüssel für sich gefunden hat, der hat eine wundervolle Strategie für den sofortigen Zugang zu sich selbst. Ich habe den „Herzschlüssel“ bei unserem Kollegen Tassilo Peters kennengelernt. Er hat mit seinem Sohn vereinbart, dass dieser „Papa, ATME!“ zu ihm sagt, wenn er außer sich ist oder die Selbstbeherrschung zu verlieren droht.

Dieser Herzschlüssel funktioniert für mich und meine Kinder nicht.

Dafür hat es sich vor längerer Zeit einmal zufällig und ganz spontan ergeben, dass mein Sohn (damals 6 Jahre alt) in einem Moment, in dem ich wütend wurde und begann zu schimpfen, mich sanft an der Schulter berührte und fragte „Mama, wie fühlst du dich?“

DAS hat mich SOFORT geerdet. Mein Wort, das bereits auf der Zunge lag, blubberte nicht mehr aus meinem Mund, sondern ich holte tief Luft und begann, zu beschreiben, was ich empfinde. Da kamen eine Menge Worte aus mir heraus – und mein Sohn stand neben mir und hörte geduldig zu. Ein Zaubermoment, in dem wir beide spürten, wie innig wir mit uns und dem anderen verbunden waren.

Seitdem macht er das immer mal wieder, wenn es bei mir eng wird, und auch seine Schwestern haben sich das mittlerweile von ihm abgeguckt.

Ich glaube, DAS ist unser ganz persönlicher Herzschlüssel. Wenn meine Kinder diesen abrufen können (also selbst nicht so arg in Not sind wie ich), dann bin ich sofort wieder in Kontakt mit mir selbst.

Jetzt bist du dran!

Finde drei (und NUR drei) Handlungen, die dir persönlich helfen.

  1. Körperliche Stimulation (innerlich oder äußerlich) wie z.B. kaltes Wasser trinken
  2. Achtsamkeitsübung (z.B. Atem bewusst wahrnehmen)
  3. Exit und sofortiges Handeln (z.B. Boden fegen)

Schreib dir deine persönlichen drei Punkte auf einen Zettel, hänge diesen gut sichtbar auf und trainiere sie, bis sie zu einem Automatismus für dich werden.

Übe dich außerdem in längerfristig wirksamen Achtsamkeitsübungen und trainiere deinen Gefühlswortschatz – am besten, indem du dir jemanden suchst, mit dem du über Gefühle sprechen kannst.

Zu guter Letzt: Suche einen zu Dir passenden Herzschlüssel und finde eine*n Empathie-Partner*in. Vielleicht gibt es einen Menschen in deinem Umfeld, der sich freut, auf diese Weise beitragen zu können?

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